Rekordandrang, 150 Bands, 18 Klubs und etliche tolle Konzerterlebnisse: Der Kiez rockte drei Tage lang.

Hamburg. Am Ende trafen sich alle auf der Meile: die amüsierfreudige Großstadt- und Landjugend, die Ausgeher aus Prinzip, die Fußballfans und die Musikliebhaber. Letztere waren allerdings die eigentlichen Platzhirsche an diesem Wochenende. Denn das Reeperbahn-Festival hatte den Kiez von Donnerstag bis Sonnabend in Besitz genommen, Musik spielte am letzten Septemberwochenende eindeutig die Hauptrolle.

Über 17 000 Gäste waren auf der vierten Ausgabe des Reeperbahn-Festivals - das ist Rekord. Sie sahen an drei Tagen über 150 Bands. Wobei insbesondere am Sonnabend die Klubs auf St. Pauli viele Musikfans anzogen. Vor den meisten Spielstätten bildeten sich lange Schlangen. Und dies nicht nur bei den Auftritten bekannter Künstler wie Editors oder Deichkind. Das Reeperbahn-Festival zeichnete sich auch in diesem Jahr durch die Vielzahl von interessanten Bands aus, die ihre neuen Songs oder sogar sich selbst erstmals einem Publikum aus Deutschland vorstellten.

Weshalb unter den Musikfans Goldgräberstimmung herrschte. Wer findet den Newcomer-Act, die beste Location, die überraschendste Performance? Wer zwischen den 18 Klubs nicht verloren ging, erlebte drei Abende von bleibendem Wert. Weil sich auf dem Reeperbahn-Festival, das eines der größten seiner Art ist, gute Musik mit der typischen St.-Pauli-Atmosphäre mischt.

Über 1000 akkreditierte Journalisten und Branchenangehörige aus aller Welt waren deshalb zu Gast in Hamburg. Ob im Imperial-Theater, im Knust, der Washington Bar oder der Hasenschaukel - überall unterhielt man sich auf Englisch und fachsimpelte über die neuen Bands und aktuellen Trends. Am ausführlichsten auf dem Reeperbahn Campus, der im Schmidt-Theater auf dem Spielbudenplatz stand. Dort diskutierte die Branche durchaus gewinnbringend über neue Finanzmodelle im Zeichen der nicht enden wollenden Absatzkrise des Musikmarkts. Täglicher Höhepunkt waren die Interviewrunden des legendären Musikjournalisten Ray Cokes, in denen er Musiker vorstellte.

Die kamen aus allen möglichen Ländern und vielen Sparten. Soul, Hip-Hop, Jazz und immer wieder Rock - die populären Spielarten kamen zu ihrem Recht. Dabei hatten Gitarrenbands wie die schwedische Friska Viljor, die in Hamburg ihre größten Fans hat, Kante und Biffy Clyro besonders leichtes Spiel mit dem Publikum. Neugierig stürzte sich das auf die meisten der Newcomer. Die waren ihrerseits froh, in Hamburg auftreten zu dürfen. The Sons, die Rockgruppe aus Derby in Großbritannien, erklären, warum der Trip auf den Kontinent etwas Besonderes ist: "Hamburg ist eine herrliche Stadt, auch weil wir im Kaiserkeller spielen durften, wo einst die Beatles ihre Karriere begannen."

Tolle Auftritte gab es einige. Zum Beispiel den von Olafur Arnalds in den Fliegenden Bauten. Dort begeisterte der junge Isländer mit seinen verträumten Soundlandschaften, die mit Piano- und Streicherklängen, mit sanft pluckernden Beats eine dezent melancholische Stimmung hervorrufen. Viel fröhlicher ging es dagegen beim dem Auftritt von Das Pop im Uebel & Gefährlich zu. Die belgische Band veröffentlicht bald ein drittes Album. Die neuen Songs sind verführerisch und eingängig - und deshalb wurde ihr gut gelaunter Auftritt zu einem der besten auf dem Festival. Besucher schwärmten übereinstimmend von dem Auftritt des amerikanischen Bluesmusikers Seasick Steve im Imperial-Theater, der einem Stück Holz mit drei Saiten mehr Rock 'n' Roll entlockte als manche Band ihrer hochgezüchteten Technik. Als einer der heißesten Newcomer wurde Janelle Monáe gehandelt. Streng kostümiert legte die zierliche Sängerin und Performerin aus Kansas City im Docks einen stimmgewaltigen Hip-Hop-Auftritt hin. Die zackigen Beats erinnerten vielfach an das erfolgreiche Duo Outkast. Nebenbei malte sie auf der Bühne ein Ölbild, das anschließend im Publikum landete. Am späten Sonnabend feierten die Fans dann beim fulminanten Auftritt der nordenglischen Band Editors den Abschluss eines erfolgreichen Festivalwochenendes. Die Band ist auf dem besten Weg, demnächst schon größere Hallen, vielleicht sogar Stadien zu füllen. Ein solches Konzert ist ein Geschenk für jedes Festival.

Der Festivalgedanke lebt aber vor allem davon, dass die Fans den Mut haben, sich auf unbekannte Bands einzulassen. Um Frustrationen vorzubeugen, war es auch in diesem Jahr wieder angezeigt, sich nicht auf die prominenten Headliner wie Dinosaur Jr., Emiliana Torrini oder die Editors zu versteifen. Wer da unbedingt dabei sein wollte, musste teilweise schon das letzte Drittel der Vorband mitnehmen und im Klub bleiben.

Der Auftritt der Hamburger Hip-Hopper Deichkind in der Großen Freiheit geriet da für viele zum Frusterlebnis. Zu viele Besucher wollten die Band, die auf Festivals locker 40 000 Leute anzieht, in einem Klub mit 1600 Leuten erleben. Freitagnacht war der Andrang so groß, dass der Veranstalter die Eingänge mit einem Polizeiaufgebot vor uneinsichtigen Fans schützen musste. Deichkind hatte den Auftritt lange im Vorfeld zugesagt. Die Band sollte ursprünglich mit der Festivalleitung zum amerikanischen Vorbild, dem South-By-Southwest-Festival in Austin (Texas) reisen. Der plötzliche Tod des Deichkind-Produzenten kam dazwischen. "Das Festival ist der Headliner", sagt Festival-Pressesprecher Frehn Hawel, "Da muss man Entdeckergeist mitbringen und eine gewisse Flexibilität. Man darf sich nicht auf eine Band versteifen." Das Gros der Besucher habe aber den Festivalgedanken inzwischen gut verinnerlicht.

Die Bedeutung und Strahlkraft von Hamburg als Musikmetropole dürfte sich nach dieser Veranstaltung weiter erhöhen. Dazu trug die Verleihung des ersten Hamburger Musikpreises "Hans" bei. Auch wenn mehrere Stimmen hinter den Kulissen bemängelten, dass er von der Jury über den Künstler bis zu den Preisträgern ein Preis "von Männern für Männer" sei. Die Planungen für das Reeperbahnfestival 2010 beginnen in den nächsten Wochen - und vielleicht gibt es dann ja auch zum "Hans" noch eine "Grete".