Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher schreibt über den kuriosesten und spannendsten Fall der Woche.

Wie viele Chancen sollte ein junger Mensch bekommen? Wie viele Gelegenheiten, sich nach begangenen Straftaten zu bessern, zu zeigen, dass er das Vertrauen verdient, das man in ihn setzt? Bei Sven G., vielfach straffällig gewordener 20-Jähriger, scheint die letzte Gelegenheit, sich doch noch zu bewähren, wohl verspielt. Der junge Mann sitzt im Gefängnis, weil er gemeinsam mit einem Bekannten einen Taxifahrer mit Schlagstöcken zusammengeprügelt, ausgeraubt und das am Boden liegende Opfer noch mit Tritten traktiert hatte. Ein Jahr und acht Monate Haft wegen schwerer räuberischer Erpressung und gefährlicher Körperverletzung hatte der Hamburger dafür bekommen - ohne Bewährung. Doch er möchte raus aus dem Knast. Die Strafe solle doch noch zur Bewährung ausgesetzt werden, hofft er. Deshalb hat er Berufung eingelegt, über die jetzt eine Kammer des Landgerichts verhandelt.

Alle sind sie zum Gerichtssaal gekommen. Die Verlobte, die Oma, die große Schwester, der Kumpel. Sie bilden eine Art Spalier, um Sven G. in Empfang zu nehmen. "Gut siehst du aus", rufen sie dem 20-Jährigen anerkennend zu. Der junge Mann hat sich auch richtig viel Mühe gegeben: die Haare akkurat gekämmt und mit viel Gel in Form gebracht, den Kinnbart sorgfältig gestutzt, das Hemd sieht frisch gebügelt aus. Er wolle, sagt Sven G., jetzt sein Leben grundlegend ändern. "Ich möchte ein ruhiges, normales Leben, ich möchte arbeiten und mit meiner Familie zusammenleben", sagt der großgewachsene Mann mit leiser Stimme.

All dies hat der Vater einer zweijährigen Tochter bisher nicht gehabt. Keine Stabilität, keine richtige Familie. Seinen Vater hat er nie kennengelernt, seine drogenabhängige Mutter beging Selbstmord, als er fünf Jahre alt war. Die Großmutter nahm ihn zu sich, kam aber schließlich nicht mehr mit ihm zurecht. Seit er 14 war, lebte Sven G. in unterschiedlichen Jugendeinrichtungen, begann zu trinken und Drogen zu konsumieren. Und wurde im Alter von 15 Jahren zum ersten Mal straffällig, ein Diebstahl. Es folgten weitere Straftaten: Bedrohung, Körperverletzung, Raub. Er hat Weisungen bekommen, Jugendarrest und eine zehnmonatige Bewährungsstrafe. Und zuletzt eben die Gefängnisstrafe.

Den Überfall auf den Taxifahrer begingen er und sein Freund im März dieses Jahres - weil sie auf leichte Art zu Geld kommen wollten. Doch es reichte ihnen nicht, dem Opfer Geld und Handy abzunehmen. Was folgte, war sinnlose Gewalt: Immer wieder traten sie auf den am Boden liegenden Mann ein, fügten ihm eine Schädelprellung zu. Eine schwere Verletzung, doch bei Weitem nicht so schwer wie die Wunden und Narben an der Seele. Der traumatisierte Mann gab seinen Beruf auf, er ist jetzt arbeitslos. Im Amtsgerichtsurteil, das jetzt in der Berufungsverhandlung verlesen wird, ist von "ungezügelter Aggression und absoluter Gewaltbereitschaft" bei Sven G. die Rede. Von "besonderer Brutalität und Rücksichtslosigkeit". Doch Sven G. kämpft. Erzählt von seinem Wunsch, "Koch zu lernen oder auf dem Bau zu arbeiten". Von Praktika, die er gemacht habe. "Ich trinke nicht mehr, ich rauche nicht mehr. Mein Ziel ist es, eine Ausbildung anzufangen und zu heiraten." Der Vorsitzende Richter hakt nach. Den Akten entnimmt er, dass der Angeklagte nach der letzten Bewährungsstrafe keinen Kontakt zum Bewährungshelfer gehalten hat, was seine Pflicht gewesen wäre. Dass Sven G. in der Untersuchungshaft aggressiv gegen Beamte war. "Außerdem haben Sie bei laufender Bewährung Marihuana gekauft. Und Sie standen unter Bewährung, als Sie diesen Überfall auf den Taxifahrer verübt haben", erinnert der Richter. "Ist Ihnen das mal durch den Kopf gegangen? Warum sollte das in Zukunft anders werden?" Weil er durch die Monate in Untersuchungshaft gelernt habe, "Menschen nicht mehr zu schaden", entgegnet Sven G. "Ich möchte nicht ins Gefängnis. Ich möchte für mein Kind da sein. Ich möchte eine Zukunft ohne Gewalt, ohne Drogen und ohne Alkohol aufbauen."

Zu spät, meinen die Richter. Die Sozialprognose sei nicht günstig, das Verhalten im Gefängnis zu schlecht, die Pläne insgesamt zu vage, meinen sie. Ihr Urteil: Die Berufung wird verworfen, der Haftbefehl bleibt bestehen. Irritiert schaut Sven G. drein, offenbar zu geschockt, um zu weinen. Ganz anders seine Verlobte: Tränen strömen ihr über das Gesicht. Mit einer matten Handbewegung winkt sie ihrem Freund hinterher, als er in Handschellen abgeführt wird. Zurück in seine Zelle.