Während die deutsche Spielebranche schwächelt, wachsen die Anbieter in der Hansestadt zweistellig. Was die jungen Kreativen so erfolgreich macht.

Hamburg. Zynisch. Menschenverachtend. Verharmlosend. Das sind nur einige der Vorwürfe, die sich Marius Follert und Niels Wildung von Politikern und Vereinen zu ihrem Erfolgsprodukt Pennergame anhören müssen. In brasilianischen Internetcafés sollte das Onlinespiel, in dem 1,5 Millionen aktive Nutzer als Obdachlose Flaschen sammeln, Kioske überfallen und Kakerlaken als Haustiere halten, sogar verboten werden.

Das virtuelle Projekt der Hamburger hat einen gewissen Seltenheitswert: Kaum ein Computerspiel wird so offen angefeindet. Und kaum ein etabliertes Spiel wurde von so jungen Entwicklern kreiert. Follert und Wildung sind beide 21 Jahre alt, beschäftigen in ihrer Firma Farbflut 30 Mitarbeiter - und wollen die Zahl der Beschäftigten in den kommenden Monaten fast verdoppeln.

Das allerdings ist im Markt der Onlinespiele alles andere als selten. Denn die junge Branche boomt . 2130 Hamburger haben mittlerweile in diesem Geschäftsfeld einen Arbeitsplatz, wie das Netzwerk Gamecity berechnet hat. Und der Stellenaufbau ist in vollem Gange. "Bis zum Jahresende erwarten wir einen Zuwachs von 18 Prozent bei den sozialversicherungspflichtigen Jobs", sagt Gamecity-Leiter Achim Quinke. Das wären weitere 380 Stellen, die zum Großteil bei den Spieleherstellern im Onlinebereich geschaffen werden.

Aber auch zuarbeitende Firmen wie Dienstleister und Berater profitieren vom Wachstum der Spieleindustrie, deren Umsätze Branchenschätzungen zufolge erstmals im Bereich von 300 Millionen Euro liegen. "Das dynamische Wachstum in der Hamburger Software- und Gamesbranche ist enorm", sagt Nikolas Hill, Staatsrat der Kulturbehörde, bei der die Förderung angesiedelt ist. "Sie spielt eine immer wichtigere Rolle in der lokalen Medienlandschaft und hat die Jobverluste in der traditionellen Pressebranche zahlenmäßig schon mehr als aufgefangen."


Mit dieser Prognose hebt sich die Hansestadt von der Branchenentwicklung ab. Denn die Gesamtumsätze mit Computerspielen sind 2009 in Deutschland laut einer Studie des Beratungsunternehmens PricewaterhouseCoopers (PwC) auf 1,8 Milliarden Euro gesunken - ein Minus von 2,4 Prozent, der erste Rückgang seit dem Jahr 2002. Weltweit ist ein ähnliches Phänomen zu beobachten. "Die Branche spaltet sich", sagt Jörg Müller-Lietzkow von der Universität Paderborn. "Bei den klassischen Spielen für Konsolen oder PC sind die sagenhaften Wachstumsraten vorbei." So schreibt der Weltmarktführer Electronic Arts (Need for Speed, Fifa, Die Sims) mit seinen PC- und Videospielen seit Jahren rote Zahlen.

Das ist bei den Hamburger Größen nicht zu befürchten. Denn die ansässigen Entwickler haben sich in der Mehrheit auf die boomenden Onlinespiele spezialisiert - und den Standort damit zu einer Welthauptstadt dieses Zukunftsmarktes gemacht. "Gemessen an der Zahl der Unternehmen, ihrer Mitarbeiter, Umsätze und Nutzer ist Hamburg weltweit ganz vorn", sagt Quinke. Den Grund für diesen Erfolg sieht er im deutschen Fachwissen bei Internettechnologien, der Kreativität und bei der Onlinevermarktung. Zudem konnten die Firmen viele Mitarbeiter aus der klassischen Medien- und Internetwirtschaft der Hansestadt rekrutieren, als das Geschäftsmodell der Onlinespiele vor fünf Jahren im Markt auftauchte.

Die sogenannten Browsergames sind kostenlos über einen Internetbrowser abrufbar, die Nutzer können während des Spiels lediglich Extras kaufen, um schneller voranzukommen. Das läppert sich: Nach PwC-Schätzungen liegen die Umsätze mit Onlinespielen bundesweit zwar noch im dreistelligen Millionenbereich, dürften aber jährlich um mindestens elf Prozent wachsen. Der Branchendienst Inside Network hat laut "Spiegel Online" errechnet, dass die weltweiten Umsätze mit Onlinespielen 2009 von fünf auf sieben Milliarden Dollar gestiegen sind.

So ist es für den Spieleexperten Quinke nur eine Frage der Zeit, bis die virtuellen Spiele das Konsolengeschäft überholen. Sollte es so kommen, wären die jungen deutschen Firmen, die schon jetzt international ganz oben mitspielen, stark im Vorteil. Denn die traditionelle US-Spieleindustrie hinkt dem Trend hinterher, Riesen wie Disney und Electronic Arts sind erst 2009 auf diesen Zug aufgesprungen.

"Hamburg hat hingegen früh auf diesen Zukunftsmarkt gesetzt, erfolgreiche Firmen angelockt und Strukturen zur Förderung und Ausbildung geschaffen", sagt Staatsrat Hill. Dazu zählt er das Branchennetzwerk Gamecity, die Prototypenförderung mit bis zu 100 000 Euro und den neuen Masterstudiengang Games, der im Frühjahr an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften den Lehrbetrieb aufgenommen hat.


Auf die wenigen Absolventen warten Hunderte offene Stellen in der Branche. Allein der Weltmarktführer Bigpoint aus Eppendorf sucht 250 neue Mitarbeiter. Die Firma Innogames aus Harburg will in den kommenden zwölf Monaten 100 Stellen schaffen. Goodgame Studios in Bahrenfeld will 50 Qualifizierte einstellen, vor allem Flashprogrammierer. Da wirken die 25 offenen Stellen bei der Firma Farbflut von Marius Follert und Niels Wildung geradezu bescheiden. "Wir würden gern noch schneller wachsen", sagt Geschäftsführer Follert. Angesichts der Konkurrenz sind die qualifizierten Leute aber nicht so leicht zu finden.

Dabei lockt die Arbeit in einer Harvestehuder Prachtvilla in einem jungen Team (der Altersschnitt liegt bei Mitte 20) mit sozialer Verantwortung: Um den Vorwürfen der Verharmlosung entgegenzutreten, engagieren sich Follert und Wildung in der Obdachlosenhilfe. Sie rufen ihre Nutzer zu Spenden auf, sponsern die Fußballmannschaft des Hamburger CaFée mit Herz und die Trommelgruppe der Obdachlosentagesstätte Mahlzeit. Ein Pennergame-Nutzer fühlte sich von dem virtuellen Spiel sogar so animiert, dass er zu Weihnachten Geschenke für die Wohnungslosen bei Mahlzeit vorbeibrachte. Ganz reale Schlafsäcke und Isomatten.