Kreuzfahrtschiffe sind schwimmende Freizeitparks. Die Kreativfabrik SeeLive produziert das künstlerische Unterhaltungsprogramm an Bord.

Die Gangway hoch vom Terminal in der HafenCity sind wir gekommen, in einen Fahrstuhl an Bord der "Aidaluna" gestiegen - und nun diese Überraschung: Ein riesiger Saal mit gläserner Kuppel öffnet sich plötzlich oben, eine Bühne mittendrin, auf einer LED-Wand flimmert ein Bilder-Musik-Potpourri. Bässe wummern, kleine Bars gruppieren sich am Rand des Saals.

Durch die hohen Fenster fällt der Blick herunter auf Barkassen und sehr klein erscheinende Binnenschiffe. Mit dem Michel, so scheint es, ist man hier oben auf Augenhöhe. Fast so, als sei das hier kein Schiff mehr, sondern ein Konzerthaus.

Rund um die Bühne sind Polstersitzreihen im Halbrund angeordnet, drei Decks hoch: Gut 1100 Plätze sind es, nur etwas weniger als im Schauspielhaus, das als größtes deutsches Sprechtheater gilt. "Man kann sagen, die größten Theater der Stadt stehen gelegentlich hier auf dem Wasser - jedenfalls, wenn die 'Aidaluna' festgemacht hat", sagt Norbert Aust, der uns hier oben begrüßt. Ein schwarzes Jackett trägt er zu dunklen Jeans und hellem Hemd, dazu einen grauen Bart unter wachen, braunen Augen. "Ich mag es, ungewöhnliche Leute zusammenzubringen", sagt er. Und ungewöhnlich ist auch sein Leben: Aust, der Jura-Professor, ist heute Geschäftsführer des SeeLive Tivoli. Künstlerschmiede, Showproduzent, Musical, Theater - das ist das erst 2001 gegründete Unternehmen alles zusammen. Für sämtliche Kreuzfahrtschiffe der Aida-Cruises-Reederei liefert es das Unterhaltungsprogramm: 232 Künstler sind bei SeeLive unter Vertrag, 160 zusätzliche Mitarbeiter im Backstage-Bereich und einige Dutzend noch einmal in der Verwaltung. Aus einer Idee ist ein großes Kreativ-Unternehmen geworden. Gewachsen mit der Kreuzfahrtbranche, die in Hamburg seit einigen Jahren einen gewaltigen Boom erlebt.

Vor gut zehn Jahren noch kamen nur wenige Kreuzfahrtschiffe die Elbe hoch. Irgendwo mitten im Industriehafen machten sie oft fest. Dann kam die HafenCity und mit der HafenCity das Terminal. Jetzt können hier die Schiffe praktisch in der Innenstadt festmachen. Fast so, als würden sie vor dem Rathaus ankern. Nur wenige Großstädte können so etwas bieten. Und die Reedereien nehmen dieses Angebot dankend an: Immer mehr Schiffe haben Hamburg in ihr Programm aufgenommen. Die Stadt ist wegen der optimalen Verkehrsverbindung zudem zu einem interessanten Passagierwechsel-Standort geworden. In Altona wurde daher schon bald ein zweites Terminal gebaut. In Zahlen liest sich dieser Boom so: Im Jahr 2000 kamen gerade einmal 29 Kreuzfahrtschiffe an die Elbe, zehn Jahre später liegt die Zahl bei 110 Schiffen. Im Mai und Juni vergeht kaum ein Tag, an dem nicht das tiefe Dröhnen ihrer Signalhörner über die Stadt weht.

Rund 200 000 Kreuzfahrtpassagiere besuchen Hamburg jedes Jahr - und lassen hier gutes Geld. Sogar zum Weihnachtsmarktbummel kommen inzwischen britische Kreuzfahrer speziell nach Hamburg. Mit dem Kreuzfahrtboom entwickelte sich eine ganze Branche drum herum. 50 Hamburger Firmen sind in dem Branchenverband Hamburg Cruise Center zusammengeschlossen. Innerarchitekten arbeiten für Werften, das Unternehmen Dauerflora hat sich auf die spezielle Floristik für Schiffe spezialisiert, Reedereien wie TUI Cruises oder Hapag-Lloyd Kreuzfahrten haben hier ihren Sitz. Und eben auch das SeeLive Tivoli.

Stammsitz ist in der Seilerstraße, in der alten Schule von St. Pauli: Ein mächtiger Backsteinbau in einer Parallelstraße der Reeperbahn. Wer durch die Flure geht, hört aus vielen Räumen Musik. Klavierspiel schallt durch eine Tür, hinter einer anderen dann wieder Musicalgesang. In einem Zimmer wird geübt, in einem anderen vorgesprochen. In der früheren Turnhalle proben Schauspielschüler gerade ein Showprogramm ein. In den Kellerräumen lagern Hunderte von Kostümen, Schuhen, Anzügen. In den oberen Etagen werden sie geschneidert. Zuschnitte in jeder Größe hängen an der Decke - Stoff für die bis zu 23 Shows, die bei einer zehntägigen Kreuzfahrt auf einem Schiff gezeigt werden. Choreografie, Komposition, Kostüme - das alles wird in der Seilerstraße selbst entwickelt, umgesetzt und zur Aufführungsreife gebracht.

Man könnte auch sagen: SeeLive ist eine Kreativfabrik mitten in St. Pauli.

Zu diesem Projekt gekommen ist Norbert Aust über einige Umwege. Eigentlich ist er auf Wirtschaftsrecht spezialisiert und war einmal Präsident der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg. Kulturmanagement war ein Thema, das er in dieser Zeit für die Uni-Ausbildung entdeckte. Darüber wurde er Vorstand der Kulturfabrik Kampnagel und lernte den umtriebigen Theatermacher Corny Littmann kennen. Beide gründeten schließlich das Schmidts-Tivoli-Theater auf der Reeperbahn. Irgendwann kam Aida Cruises auf beide mit der Idee zu, auch das Showprogramm auf den Aida-Klubschiffen zu übernehmen. Als Joint Venture. "Mit Kreuzfahrt hatte ich da noch nichts am Hut", sagt Aust. Kreuzfahrt - das war für ihn etwas für ältere, reiche Leute. So wie auf dem ZDF-"Traumschiff". "Für Leute, die ihre Zeit schon gehabt haben." Nicht gerade das Tivoli-Publikum.

"Mit meinen Kindern habe ich dann testweise eine Kreuzfahrt gemacht", sagt Aust. Er entdeckte ein entspanntes Reisen durch viele interessante Hafenstädte im Mittelmeer. "Das ist ein sehr angenehmer Urlaub, und das Hotel kommt praktisch mit", sagt Aust. Zudem haben sich Schiffe und Publikum erheblich verändert. Tatsächlich registrieren Kreuzfahrtexperten wie der Hamburger Helge Grammerstorf enorme Zuwachsraten der Branche in Deutschland, zum Teil im zweistelligen Prozentbereich. Rund eine Million Deutsche buchen heute solche Touren, 2018 könnten es zwei Millionen sein, schätzt Grammerstorf. Ein neues Publikum entdecke gerade diese Art des Urlaubs, sagt er, auch frühere Pauschaltouristen und Kluburlauber.

Das hat Folgen: Immer mehr Schiffe bieten immer mehr Zerstreuung. Auf der "Celebrity Solistice" gibt es echten Rasen zum Picknicken auf dem Oberdeck, die "Norwegian Epic" hat eine Bar aus Eisblöcken gebaut, andere Schiffe haben ihre eigene Brauerei an Bord. Künstliche Surfwellen, Rollschuhbahnen, riesige Wasserrutschen - längst sind Schiffe zu Freizeitparks auf See geworden. Gigaliner wie "Oasis of the Seas" warten sogar mit einem eigenen Park auf dem Schiff auf. Sieben Meter hohe Bäume stehen dort.

Die Kreuzfahrtschiffe, sagt Experte Grammerstorf, würden immer mehr "selbst zur Destination". Schon jetzt, schätzt die Reederei MSC, gehen 50 Prozent der Gäste gar nicht mehr von Bord während einer Reise. Und müssen unterhalten werden.

Allerdings: Solche Riesenpötte wie die "Oasis of the Seas" mit 5000 und mehr Passagieren können auch nicht mehr jeden Hafen anlaufen. Entertainmentexperte Norbert Aust glaubt daher, dass Schiffe mit Gästezahlen bis knapp 3000 und einem feinen und guten Showprogramm wie auf der "Aidaluna" die eigentliche Zukunft in diesem Geschäft haben. Mögen andere Schiffe ihr eigenes Ziel bleiben, mögen sie alle erdenklichen Zerstreuungsangebote bieten - der Reiz einer Kreuzfahrt sind doch die Häfen. Und vor allem diejenigen, die wie in Hamburg mitten in der Stadt liegen: Dagegen dürften dann auch keine künstlichen Surfwellen oder eine Eisbar eine Chance haben.