Deutschland braucht höhere Löhne und mehr Konsum.

Deutschland erlebt in diesen Tagen ein Sommermärchen. Inmitten der schwersten Finanzkrise seit Jahrzehnten wächst die Wirtschaft so stark wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr. Der Export brummt, Umsätze und Gewinne klettern, die Arbeitslosigkeit sinkt. Wie Phoenix aus der Asche entsteigt die Bundesrepublik dem Sumpf des Abschwungs und überrascht damit selbst Optimisten. Glaubt man den Forschungsinstituten, stehen die Chancen nicht schlecht, dass sich der Positivtrend fortsetzt. Deutschland hat seinen Ruf als "kranker Mann" längst abgeschüttelt und ist dabei, wieder das Zugpferd Europas zu werden.

Die neue Wirtschaftskraft erscheint wie ein Wunder, hat aber handfeste Ursachen. Sowohl der Bundesregierung, den Unternehmen und nicht zuletzt den Millionen Beschäftigten ist es gelungen, der weltweiten Wirtschaftskrise mit den richtigen Instrumenten zu begegnen. Die milliardenschweren Konjunkturprogramme haben wesentlich dazu beigetragen, die Wirtschaft nicht ins Bodenlose abstürzen zu lassen. Die Firmen haben durch die intensive Nutzung von Kurzarbeit eine Massenarbeitslosigkeit verhindert. Gewerkschaften stärkten wiederum mit ihrer besonnenen Lohnpolitik die Wettbewerbsfähigkeit der Firmen. Diese Mischung war offensichtlich ein gutes Rezept und könnte durchaus als Blaupause für künftige Krisen nützlich sein.

Dennoch ist grenzenlose Euphorie fehl am Platz. Deutschlands Stärke und zugleich größte Achillesferse bleibt der Export. Die Ausfuhren tragen seit Jahren wesentlich zum Wachstum und damit zum Wohlstand bei. Schwächelt die Nachfrage aus den USA, Europa oder Asien oder bricht sie gar ein, wirkt sich dies sofort auch negativ auf die deutsche Wirtschaft aus. Deutschland hängt damit ständig am Tropf des Auslands. Um dieses Ungleichgewicht ins Lot zu bringen, muss der Konsum im Inland dringend gestärkt werden. Voraussetzung dafür ist eine bessere Bezahlung der Beschäftigten. Spätestens im nächsten Jahr sollte daher die jahrelang praktizierte Lohnzurückhaltung aufgegeben werden. Der finanzielle Spielraum dafür ist angesichts steigender Gewinne in vielen Betrieben und Konzernen vorhanden.

Eine der größten Herausforderungen bleibt es aber, den gigantischen Schuldenberg abzutragen. Die hohen Staatsverschuldungen der europäischen Nachbarn haben erst vor wenigen Monaten den Euro in eine schwere Krise geführt. Deutschland steht hier in der Pflicht, mit gutem Beispiel voranzugehen, seine Neuverschuldung konsequent zurückzufahren und damit ein Zeichen des Vertrauens an die Finanzmärkte zu senden. Alles hat bekanntermaßen seine Zeit. Und die Zeit dafür ist jetzt reif.