Am 12. August 1944 töteten SS-Soldaten in dem toskanischen Bergdorf 560 Zivilisten. Beteiligt war auch ein Hamburger. Er ist bis heute ein freier Mann.

Volksdorf gehört zu den gehobenen Stadtteilen Hamburgs. Nahe dem liebevoll gepflegten Dorfkern mit seinen Reetdachhäusern liegt, umringt von alten Bäumen, die Cura-Seniorenwohnanlage. Gerhard Sommer kann sich dieses Idyll im Alter offenbar leisten.

Wie viel Ruhe dem 89-Jährigen seine Erinnerungen lassen, ist freilich eine andere Frage. Gerhard Sommer war im Zweiten Weltkrieg als SS-Untersturmführer in der Toskana stationiert. Das Militärgericht der italienischen Hafenstadt La Spezia hat ihn zu lebenslanger Haft verurteilt. Es hat ihn für schuldig befunden, am Massaker von Sant'Anna di Stazzema mitgewirkt zu haben.

In dem toskanischen Bergdorf, hoch über dem Städtchen Pietrasanta in der Provinz Lucca gelegen, ermordeten Soldaten der Waffen-SS am 12. August 1944 binnen Stunden 560 Menschen, die meisten von ihnen Frauen und Kinder, das jüngste ein drei Wochen altes Baby. Danach setzten sie Leichen und Häuser in Brand und verschwanden.

Wie an jedem 12. August machen sie sich heute auf den Weg in das fast verlassene Dorf: die Überlebenden und ihre Familien, Politiker, Vertreter von Opferverbänden. Wie jedes Jahr werden sie unter den Platanen auf dem Kirchplatz stehen, der sich zum Tal hin weitet, während der Erzbischof von Pisa die Messe liest. Danach ziehen sie weiter zum Mahnmal hinauf. Der Blick von dort oben reicht weit über die Landschaft bis zum Meer und nach Korsika.

Wie jedes Jahr wird sich Enio Mancini umsehen und im Geiste durchzählen. Letztes Jahr hat der 72-Jährige noch 40 Teilnehmer gesehen, die wie er schon damals hier waren. Damals waren sie Kinder.

Enio Mancini ist vom nahen Städtchen Valdicastello heraufgekommen, wo er seit 1964 lebt. Er sieht aus, als fröre er. Seine Augen wirken riesig hinter den gewölbten Brillengläsern, die Nase ist leicht gerötet. Seine raue und zugleich melodische Stimme klingt, als wäre es erst gestern gewesen, dass die Welt seiner Kindheit unterging.

Damals ziehen Enio, damals sechs Jahre alt, und sein älterer Bruder jeden Tag mit den Schafen los. Das Hüten ist ihre Aufgabe. Jede Familie hat eine Handvoll Schafe; wenn sie die anderen Kinder treffen, gibt es eine richtige Herde. Und neuerdings haben sie noch mehr Spielkameraden: In jedem Haus wohnen jetzt Flüchtlinge. Abends toben sie bis zum Dunkelwerden auf dem Kirchplatz, begleitet vom dumpfen Wummern der Geschütze, das aus der Ebene heraufdringt. Enio und sein Bruder teilen ihre Betten und Strohsäcke mit den Kindern der Flüchtlingsfamilie, die bei den Mancinis wohnt. Zu essen gibt es nicht mehr als vorher: nur das, was die Schafe und die einzige Kuh hergeben. Zum Abendbrot bekommt jedes Kind genau eine Tasse Milch.

1944 hungerten alle. Die Menschen retteten sich vor den Luftangriffen in die Berge. Sie kamen aus den benachbarten Orten in der Ebene, sogar aus Lucca und Pisa. Sie kamen zu Fuß; es führten damals nur Trampelpfade nach Sant'Anna. Im August 1944 beherbergte das Dorf Hunderte Flüchtlinge. Die Dorfschule war schon Ende 1943 geschlossen worden.

An dem Morgen, den Enio Mancini bis an sein Lebensende erinnern wird, weckt ihn sein Vater früh. Er hat Soldaten auf einem der Wege näher kommen sehen. Der Vater und die anderen männlichen Dorfbewohner verstecken sich im Wald, um nicht als Zwangsarbeiter verschleppt zu werden. Die Kinder können sich in der Eile nicht mehr anziehen. Die Frauen werfen Kleidung und Wäsche aus dem Fenster, sie schleppen so viel Geschirr und Möbel nach draußen, wie sie schaffen.

Sie versuchten, ihre Habe zu retten, weil sie fürchteten, die Deutschen könnten die Häuser anstecken. Tage zuvor hatten SS-Truppen ein verlassenes Dorf in der Nähe in Brand gesetzt. "Wir sahen die Soldaten schon näher kommen", sagt Mancini, und seine Stimme wird noch ein wenig heiserer, "und wir hörten Schüsse: tatam, tatam."

Der Vater ist gerade verschwunden, da hämmern die Soldaten an die Tür. Mit Schlägen und Fußtritten treiben sie die Hausbewohner vor einer Wand zusammen und bauen auf einem kleinen Hügel ein Maschinengewehr auf. Enio begreift nicht, was geschieht, aber er hört die Frauen weinen und bitten: "Wir sind unschuldig! Lasst wenigstens die Kinder laufen!" Ein Offizier in schwarzer Uniform und SS-Runen auf dem Ärmel befiehlt schließlich, dass sie nicht erschossen werden, sondern nach Valdicastello absteigen sollen.

Was genau in den frühen Morgenstunden des 12. August 1944 in den zum Teil weit auseinanderliegenden Weilern und Gehöften von Sant'Anna geschah, ist nicht mehr lückenlos zu rekonstruieren. Viele jüngere Männer aus dem Dorf hatten sich wie Mancinis Vater versteckt. So trafen die Truppen fast nur Frauen, Kinder und ältere Leute an. Manche Soldaten schickten die Dorfbewohner nach Valdicastello, wo eine Gefangenensammelstelle eingerichtet worden war. Andere warfen Handgranaten in die Menschentrauben oder erschossen sie mit Handfeuerwaffen. Sie setzten Häuser und Leichenberge in Brand, die Tiere erstickten im Rauch. Auf dem Kirchplatz erschossen sie etwa 120 Menschen mit Maschinengewehren. Sie zerschlugen die Orgel der Dorfkirche und zerrten das Kirchengestühl auf den Vorplatz als Brennmaterial für die Toten. Am 12. August 1944 starben in Sant'Anna di Stazzema Schätzungen zufolge 560 Menschen, unter ihnen über 130 Kinder, sagt Enio Mancini.

Enio stolpert im Gänsemarsch mit den anderen durch den Wald. Sie gehen langsam, weil die Kinder barfuß sind. Nur ein junger Soldat ist noch bei ihnen. Sie verstehen seine Sprache nicht, aber er macht ihnen Zeichen wegzulaufen. Sie machen kehrt und rennen heimwärts. Im Wegrennen hören sie Schüsse. Aber der junge Mann schießt nicht auf sie, sondern in die Luft.

Es ist nicht bekannt, ob der Kommandeur von Himmlers 16. Panzergrenadierdivision "Reichsführer-SS", Anton Galler, seine Truppen bereits mit dem Auftrag losgeschickt hat, das Dorf auszulöschen, noch, ob er überhaupt dabei war. Die Offiziere können das Morden auch erst am Ort angeordnet haben. Man weiß auch nicht, ob und in welchem Umfang die Soldaten spontan und ohne Befehl handelten.

Partisanenbekämpfung hat der SS an vielen Schauplätzen des Zweiten Weltkriegs den Vorwand für Massaker an der Zivilbevölkerung gegeben. In den Tagen vor dem 12. August hatte es in der Gegend von Sant'Anna blutige Zusammenstöße mit den Partisanen gegeben. "Die SS-Leute nahmen an, dass die Partisanen im Dorf eine Basis hatten", sagt der italienische Historiker Carlo Gentile von der Universität Köln. Dass sie in Sant'Anna hauptsächlich Frauen, Kinder und alte Menschen abschlachteten, widerspreche dem nicht: "Die machten da keinen großen Unterschied. Die setzten die Einwohner der Gegend kurzerhand mit Partisanen gleich."

Von den rund 3000 Menschen, die im Sommer 1944 in der Toskana getötet wurden, fielen allein in der Gegend von Sant'Anna etwa 1300 verschiedenen Einheiten der 16. Panzergrenadier-Division "Reichsführer-SS" zum Opfer.

Der Lärm der Schüsse erfüllt die Luft. Überall brechen Häuser zusammen, schreien Tiere, die in ihren Ställen verbrennen. Die Mancinis können ihr Haus löschen, bevor es ganz abbrennt, aber die Kuh ist erstickt. Erst als Stunden später die Männer zurückkommen, erfahren sie, dass in den anderen Teilen des Dorfs Menschen zu Tode gekommen sind. Sie vergessen das Haus und die Kuh und rennen hinunter zur Kirche. Manche Häuser brennen noch, Enio sieht Leichen, von den Blutlachen erheben sich Fliegenschwärme. Er läuft hinter seinen Eltern her zu den Häusern ihrer Verwandten. Sie erkennen niemanden mehr unter den Toten.

"Ich habe vor allem die Kinder gesucht. Meine Schulkameraden, meine Freunde." Mancinis Stimme ist noch tiefer gesunken. "Das war das Schlimmste für mich, dass die anderen Kinder fehlten", sagt er. Seit 66 Jahren quält ihn die Erinnerung an den Geruch nach verbranntem Fleisch: "Der hing noch Monate später in den Häusern." Albträume quälten ihn noch lange. Bis 1950 ist er in Sant'Anna in die Grundschule gegangen, dann kam er auf eine Schule nach Pisa. "Es war ein Glück für mich, dass ich nicht mehr mit all den Erinnerungen leben musste."

Im Jahr 1948 wurde das Mahnmal von Sant'Anna eingeweiht. Seither finden jährlich Gedenkfeiern statt.

Enio Mancini hat sein Leben in den Dienst der Erinnerung gestellt. In Jahren hat er zusammengetragen, was von den Toten geblieben ist: eine nackte, angeschmorte Puppe, Eheringe, verrostete Rosenkränze, ausgestellt in einer mit rotem Samt ausgeschlagenen Vitrine. Das Museum hat er nach seiner Pensionierung 1991 im ehemaligen Schulgebäude aufgebaut. Von einer Fotowand schauen riesige Gesichter den Betrachter an, Gesichter jeden Alters, hier die Opfer und dort die Überlebenden.

"Dass deutsche Touristen ins Museum kamen, war für mich zu Anfang nicht einfach", sagt Mancini. "Aber Nazis und Deutsche, das ist nicht dasselbe. Zu dem SS-Bataillon gehörten auch andere Nationalitäten. Der Kommandant war Österreicher." Im Lauf der Jahre hat Mancini mehr Deutsche kennengelernt. Das Essener Musikerpaar etwa, das in ungezählten Benefizkonzerten, Kirchenkollekten und Spendenaufrufen das Geld für den Orgelneubau zusammengebracht hat. "Friedensorgel" heißt sie und ist gerade drei Jahre alt.

1994 wurde in Rom der sogenannte Schrank der Schande entdeckt. Darin hatten seit Kriegsende Ermittlungsunterlagen der Alliierten gelagert; kein Mensch hatte sich darum gekümmert. Im selben Jahr nahm die Militärstaatsanwaltschaft der nahe gelegenen Hafenstadt La Spezia die Ermittlungen auf. 2005 verurteilte das Militärgericht von La Spezia zehn deutsche ehemalige SS-Soldaten zu lebenslanger Haft - in Abwesenheit. Keiner von ihnen hat die Strafe angetreten; deutsche Staatsangehörige können nur mit ihrer Zustimmung ausgeliefert werden.

2002 hat auch die Staatsanwaltschaft Stuttgart Ermittlungen gegen neun der zehn Verurteilten von La Spezia aufgenommen, darunter auch gegen Gerhard Sommer. Anklage hat sie aber bis heute nicht erhoben. Die Strafverfolgung wegen Totschlags ist verjährt; in Betracht kommt allenfalls eine Bestrafung wegen Mordes. Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler sieht allerdings keinen hinreichenden Tatverdacht - und den bräuchte es für die Anklageerhebung. "Feststellungen eines anderen Gerichts dürfen wir nicht zugrunde legen. Wir ermitteln noch", sagt er. "Wir haben zwar neue Hinweise erhalten, denen wir nachgehen. Aber bislang können wir keine konkrete und vorsätzliche Tatbeteiligung nachweisen, die nach deutschem Recht als Mord zu qualifizieren wäre." Über Gerhard Sommer sagt er nichts, aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes.

Die Hamburger Rechtsanwältin Gabriele Heinecke, die den Opferverband von Sant'Anna als Nebenkläger vertritt, hält hingegen bei Sommer das Mordmerkmal des niedrigen Beweggrundes für gegeben: "Das Militärgericht hat doch festgestellt, dass er als Befehlshaber verantwortlich war. Es gab keinen Grund zu der Annahme, dass die alten Männer, die Frauen und Kinder, die auf dem Kirchplatz von Sant'Anna abgeschlachtet wurden, irgendetwas mit Partisanen zu tun hatten." Dass Mancini und sein Leidensgenosse Enrico Pieri, der Präsident des Opferverbandes, im vergangenen Frühjahr das Bundesverdienstkreuz erhalten haben, besänftigt Heinecke nicht: "Da drängt sich der Gedanke auf, dass die beiden mit dem Verdienstkreuz dazu gebracht werden sollen, endlich einen Schlussstrich zu ziehen und nicht länger auf der strafrechtlichen Verfolgung zu bestehen."

Gerhard Sommer selbst ist zu keinem Gespräch bereit. In Volksdorf ist er ein bekannter Mann. Peter Wilhelm Speckhahn, der in Volksdorf als Heilpraktiker arbeitet, hat sich einige Jahre in der Bürgerinitiative "Gerechtigkeit für die Opfer und Hinterbliebenen des Massakers von Sant'Anna" engagiert. Die Initiative ist eingeschlafen: "Man kann so wenig bewegen", sagt Speckhahn. Oft hat er Sommer auf der Straße gesehen. "Aber das letzte Mal ist bestimmt ein Vierteljahr her."

Gerhard Sommer ist 89 Jahre alt. Viel Zeit bleibt der Justiz nicht mehr.