Wohin mit der Wut? Das Projekt Box-Out hilft Schülern wie Madjid und Maame Yaa mit klaren Regeln. Es geht um Werte wie Respekt und Disziplin.

Hamburg. Madjid hat von allen den weitesten Weg. Nach dem Tod seines Vaters ist er aus Angst vor seinem Onkel und vor dem Krieg aus Afghanistan geflüchtet. Ist mit seiner Mutter, seiner Schwester und zwei Brüdern mit dem Auto in den Iran und von dort in die Türkei gefahren. Dann ging es zu Fuß weiter. 38 Stunden über hohe Berge, ohne Wasser, kaum etwas zum Essen. Sie haben eine Schießerei an der Grenze überlebt, bevor sie ein Schleuser auf dem Laster mit 28 Flüchtenden nach Istanbul brachte.

Dort im Hafen hat Madjid seine Familie verloren, als er den plötzlich auftauchenden Polizisten nur deshalb entkam, weil er mit ein paar anderen in ein Schlauchboot sprang. Über Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich kam er 2008 nach Hamburg. Von seiner Familie hat der 16-Jährige bis heute nichts mehr gehört. Madjids Familie ist jetzt das Box-Out, "und Christian Görisch ist so etwas wie ein Onkel für mich geworden".

+++ "An die Gefährdeten rankommen" +++

Maame Yaa kommt dreimal in der Woche aus Wilhelmsburg zum Heidenkampsweg. Auch sie hat hier so etwas wie eine zweite Familie gefunden und würde "am liebsten jeden Tag" über die Elbe in die City Süd fahren. "Neger, Neger" haben sie ihr in der Schule immer wieder hinterhergerufen. Die 14-Jährige hat sich mit Schlägen gewehrt, bis man sie hierher geschickt hat und sagte, das sei jetzt ihre letzte Chance. Nach einer weiteren Anzeige hat Christian Görisch für sie ein positives Gutachten geschrieben. Jetzt versucht die Schülerin, die täglichen Anfeindungen "einfach zu ignorieren".

Als der 16-jährige Elias im Mai den 19-jährigen Mel im U-Bahnhof Jungfernstieg mit zahlreichen Messerstichen tötete, erschütterte diese Gewalttat die Stadt. Zur gleichen Zeit erbrachte eine SPD-Anfrage an den Senat, dass die Zahl der Gewaltvorfälle an Hamburger Schulen im vergangenen Jahr von 361 auf 484 angestiegen ist, was ein Plus von 34 Prozent bedeutet. Sogar um 42 Prozent stiegen schwerere Straftaten wie Sexual- und Raubdelikte, gefährliche Körperverletzungen, Waffen- und Drogendelikte. Wenn immer mehr Jugendliche in der Stadt scheinbar aus heiterem Himmel austicken, läuft irgendetwas ziemlich schief. Bei der Suche nach Schuldigen aber geraten zu oft diejenigen aus dem Blick, die sich mit den Verhältnissen, wie zum Beispiel wild um sich schlagende Jugendliche, nicht einfach abfinden wollen.

Im Gym am Heidenkampsweg lernen die Schüler ebenfalls zuzuschlagen. Laute Hip-Hop-Musik dröhnt aus den Lautsprechern, an zwölf Sandsäcken hauen sich Mädchen und Jungen die Seele aus dem Leib und können sich dabei in der großen Spiegelwand selbst zuschauen. In einer Ecke steht ein Boxring, in dem die Schüler abwechselnd unter der lautstarken Anleitung eines Trainers die Fäuste fliegen lassen. Schläge zum Kopf sind tabu.

Madjid und Maame Yaa sind zwei von mehr als tausend Schülern, die sich schon auf dieses Projekt eingelassen haben und sich nun einen Alltag ohne Boxen nicht mehr vorstellen können. "Wir versuchen, durch die Hintertür in die Köpfe der jungen Leute reinzukommen und ihnen Werte wie Respekt und Disziplin zu vermitteln", sagt Christian Görisch, 39. Zusammen mit Olaf Jessen hat der durchtrainierte Sportwissenschaftler, selbst mehrfacher Hamburger Meister im Leichtgewicht, das Projekt vor vier Jahren ins Leben gerufen.

Ex-Boxweltmeisterin Regina Halmich ist Schirmherrin. Anfangs machten vier Schulen mit, inzwischen sind es mehr als 30 Haupt- und Realschulen sowie Förderschulen, die Box-Out bei sich anbieten oder mit ihren Klassen ins Gym kommen. Gymnasien sind nicht dabei. Hier geht es um die schwierigen Fälle. Und das erklärt vielleicht den Andrang. Es geht hier sehr eindeutig um soziale Brennpunkte. Um die, die erst mal nicht wissen, wohin mit der Wut. Hier versammeln sich die aus dem Rahmen Gefallenen. Mobbingopfer wie Maame Yaa, unbegleitete Flüchtlinge wie Madjid. Es geht in diesem umgebauten Bürokomplex jeden Tag ganz konkret um nicht weniger als die Verhinderung der Spaltung der Gesellschaft. In arm und reich, Gewinner und Verlierer, Täter und Opfer. Und es geht um die Erkenntnis, dass der Generation Playstation mit Turnen und Hockey nicht mehr beizukommen ist, während sie "Boxen cool findet", wie Steffi Rühmke weiß.

Die Erzieherin an der Förderschule Pröbenweg hat sich zur Gewaltmoderatorin weiterbilden lassen. Und kam so in Kontakt mit dem Projekt. Die 42-Jährige kann manchmal gar nicht fassen, was mit ihren Schülern passiert. Wenn die jetzt zum Beispiel im Unterricht beim kleinsten Fehlverhalten erst einmal zehn Liegestütze machen und "die Kinder das gut finden". Schließlich kennen sie das von Box-Out nicht anders. Auch da muss der, der die Regeln verletzt, erst einmal runter auf den Boden. Unpünktlich sein? Sabbeln, wenn der Trainer spricht? Kiffen? Andere beschimpfen? All das wird sofort korrigiert. "Als wir das erste Mal mit 20 Siebtklässlern hierher gekommen sind, gab's von Christian gleich einen Anpfiff, weil einige mitten durchs Blumenbeet gelatscht sind", sagt Steffi Rühmke. So etwas prägt sich ein, sagt sie. Und dass die Schüler, um die sich zu Hause selten jemand kümmert, den engen Rahmen im Grunde ganz toll finden. "Das ist eigentlich das, was sie wollen."

Und das hat oft erstaunliche Wandlungen zur Folge. "Ich will hier lernen, wie man jemanden kaputtschlägt", sagte Aydin aus Hamburgs ältester Förderschule in der Carsten-Rehder-Straße auf St. Pauli, als er das erste Mal ins Gym kam. Heute übernimmt der 16-Jährige dort kleine organisatorische Aufgaben und hat eine Vorbildfunktion. "Man kann sich hundertprozentig auf ihn verlassen", sagt Ugur.

Ugur ist einer von 13 Trainern bei Box-Out. Wenn der groß gewachsene, drahtige 40-Jährige mit den Schülern redet, tut er das in ihrer Sprache. Es ist auch seine. Er war ja selbst "nicht doll" in der Schule. Das verstehen sie und "stehen oft mit offenem Mund vor ihm", sagt Steffi Rühmke. Jungen wie Aydin fragt Ugur zuerst, was passiert, wenn man jemandem die Zähne raus haut. "Das kostet Geld. Dein Geld, Aydin. Und wenn du kein Geld hast? Dann kann der andere einen Titel gegen dich erwirken. Und dann? Dann hast du jahrelang Schulden. Und? Willst du das?"

Und Ugur fragt die Jugendlichen, ob sie wüssten, was mit jemandem passiert, der Gewalt erfährt. "Viele von denen sind selbst Opfer", sagt Ugur.

Dabei ist noch gar nichts gewonnen, wenn sie das erste Mal kommen. "Die meisten haben am Anfang eine völlig falsche Vorstellung", sagt Christian Görisch. "Sie glauben, wenn sie dreimal hier waren, können sie auf der Straße jeden umhauen. Und dann merken sie: Oh, ich muss ja mein Leben ändern. Muss erst mal fit werden, die Ernährung umstellen oder mit dem Kiffen aufhören. Oder keinen Wodka mehr am Wochenende in mich reinschütten."

Genau hier stößt das Projekt auch an seine Grenzen. Wenn es nämlich darum geht durchzuhalten. Keiner weiß das besser als Joachim Hinz. Der 53-jährige Schulleiter war mit der Schule Luruper Hauptstraße einer der ersten Teilnehmer. Er lobt die Qualität der Trainer und erzählt von sogenannten Opferschülern, die sich durch das Boxen total verändert hätten und nun plötzlich ein Selbstbewusstsein ausstrahlen, weil sie "einen Raum gefunden haben, in dem sie Stärke entwickeln können". Aber Hinz sagt auch, dass die regelmäßige Teilnahme manchmal an ganz einfachen Dingen scheitert. "Die Schüler melden sich begeistert an, wollen mitmachen - und haben am betreffenden Tag dann gar kein Sportzeug dabei."

In Lurup wird nachmittags getrommelt, gekocht, getöpfert, Basketball, Fußball und Theater gespielt. Es gibt Streitschlichter, eine Hip-Hop-Gruppe und den Club der jungen Dichter. Box-Out sei eines von vielen Projekten, für die er insgesamt rund 10 000 Euro pro Jahr von der Behörde bekommt. "Ein wichtiger Baustein ja, aber einen Zauberstab haben die auch nicht", sagt Hinz. Und es gebe genug Risikoschüler, an die man überhaupt nicht mehr rankommt. Manchmal helfen dann Menschen wie Peter, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Der 23-Jährige boxt zum einen selbst im Projekt. Eine Bewährungsauflage, nachdem er wegen schweren Bandendiebstahls zu zwei Jahren und acht Monaten Gefängnis verurteilt worden ist. Und gleichzeitig geht er mit Christian Görisch in die Schulen und erzählt dort, wie es wirklich hinter Gittern aussieht. Dass wahrlich alles besser ist als Knast. Und dass man sich die Zukunft nicht verbauen darf.

Madjid will irgendwann Pokale gewinnen und Profiboxer werden. Sein Vorbild ist Muhammad Ali. Er will Deutsch lernen, die Gewerbeschule abschließen und "in Hamburg bleiben". Maame Yaa hat durch das Boxtraining schon mehr als 20 Kilo abgenommen, ihr Notendurchschnitt beträgt jetzt 1,8. Was auch damit zusammenhängt, dass sie bei Box-Out am Nachmittag Hausarbeitshilfe anbieten. Nur die Fünf in Mathe nervt noch. Durch die Vermittlung von Box-Out, wo man sich zunehmend auch um die Kooperation mit Betrieben kümmert, kann sie vielleicht in einem Fitness-Studio eine Ausbildung beginnen. Christian sagt, dass Maame Yaa sich "nach vorne gekämpft hat". Nachdenklicher geworden ist. "Sie denkt jetzt nicht mehr zuerst durch die Faust, sondern mit dem Kopf."

Dazu musste sie allerdings erst einmal richtig Boxen lernen.