Umweltschützer und Politiker kritisieren, dass nach Haus- und Industriebauten neue Naturflächen nicht genug eingerichtet werden.

Hamburg. Hamburg wächst und braucht Flächen - für Wohnungsbau, Straßenbau, Hafenerweiterung. Doch jeder Eingriff in die Natur muss laut Bundesnaturschutzgesetz ausgeglichen werden. Geht an einer Stelle Naturraum verloren, muss anderswo neuer Lebensraum entstehen.

In der Hansestadt wird diese Vorschrift jedoch häufig nur unzureichend befolgt, kritisieren Naturschützer und Politiker. Die Umsetzung vieler Ausgleichsmaßnahmen dauere zu lange, die Umsetzung werde kaum kontrolliert. "Die Ausgleichsflächen werden knapp, die Trickserei steigt", beklagt Manfred Braasch, Chef des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) Hamburg.

Beispielhaft für eine schleppende Umsetzung ist ein Vorgang in Allermöhe. Dort wurde in den 1990er-Jahren durch den Bau einer S-Bahn-Haltestelle und einer Autobahnabfahrt viel Natur zerstört. Als Ersatz sollten Deutsche Bahn, Bund und Land entlang der Autobahn 20 auf zehn Hektar Fläche Gräben und Gehölze anlegen. Das 2002 begonnene Projekt wird erst in diesem Jahr fertiggestellt.

Auch die Ausgleichsmaßnahmen für das Mühlenberger Loch sind immer noch nicht abgeschlossen. Für die Airbus-Werkserweiterung wurden bereits vor zehn Jahren 170 Hektar des Naturschutzgebiets an der Elbe zugeschüttet. Um diesen Eingriff zu kompensieren, wurden drei Ausgleichsmaßnahmen angeordnet. 2004 wurde zunächst ein großer Teil der Halbinsel Hahnöfersand in Wattfläche verwandelt . Hier sollte ein Ausweichquartier für die vielen Zugvögel entstehen, die am Mühlenberger Loch Rast gemacht hatten, darunter die Löffelente. Der Erfolg ist mäßig, die Ente ließ sich bislang auf Hahnöfersand kaum blicken.

Die beiden anderen Ausgleichsmaßnahmen fürs Mühlenberger Loch wurden laut BUND bisher gar nicht umgesetzt. "Deshalb haben wir im Februar bei der Europäischen Kommission eine Beschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland eingereicht", sagt Braasch. Bereits 2006 habe die EU-Kommission klargestellt, dass die Airbus-Werkserweiterung nicht hätte genehmigt werden dürfen. Zumindest aber, so die Kommission damals, müssten "alle notwendigen Ausgleichsmaßnahmen" umgesetzt werden.

Doch das Gegenteil sei der Fall, so Braasch. Die an dem schleswig-holsteinischen Fluss Hörner Au vorgesehene zweite Ausgleichsmaßnahme sei bisher nicht nur nicht umgesetzt - in dem Bereich, der zu einem Vogelschutzgebiet entwickelt werden sollte, werde nun sogar die Bundesautobahn A 20 geplant. Auch mit der Tideöffnung der Borghorster Elbwiesen bei Geesthacht, der dritten Ausgleichsmaßnahme, gehe es nicht voran.

In Wilhelmsburg wird momentan durch die Vorbereitungen auf die Internationale Bauausstellung (IBA) und die Internationale Gartenschau (igs) besonders häufig in die Natur eingegriffen. Und es kommt schon mal zu Ausgleichsmaßnahmen mit zweifelhaftem Sinn: So wurden jüngst für die 2000 Park- und Straßenbäume, die der igs weichen mussten, 1200 Bäumchen in Moorwerder und Stillhorn gepflanzt. Allerdings galt das Brachland vorher schon als ökologisch wertvoll. "Nun macht man aus Grünland Wäldchen", sagt Kurt Duwe, umweltpolitischer Sprecher der FDP. "Das ist völlig unnatürlich. Moorwerder heißt schließlich so, weil es eine Moorinsel ist."

Mehr als ein halbes Jahrhundert, so erfuhr Duwe in einer Kleinen Anfrage vom Senat, werde es dauern, bis sich Wilhelmsburg von den Eingriffen durch IBA und igs erholt habe. Umso schlimmer ist es, wenn verlorene Natur dann gar nicht oder unzureichend ersetzt wird - etwa weil altes Planrecht angewendet wird. Das ist gerade an der Dratelnstraße passiert. Dort hatte sich auf einer vier Hektar großen Fläche in den letzten Jahrzehnten ein schützenswertes Biotop entwickelt, das unlängst für einen igs-Parkplatz abgeholzt wurde. Weil das Gebiet in den 1970er-Jahren als Industriefläche und Sportplatz ausgewiesen wurde, müssen jetzt nur 35 Prozent des eigentlichen Wertes ausgeglichen werden.

Dabei ersetzt ein neuer Baum noch lange keinen alten. Ein 100-jähriger Laubbaum mit einem Kronendurchmesser von 15 Metern etwa liefert laut BUND den Sauerstoff für zehn Menschen und trägt zu sauberer Stadtluft bei. Um die Funktion dieses einen Baums zu ersetzen, müssten mehr als 2500 Jungbäume mit einem Kubikmeter Kronenvolumen gepflanzt werden.

Der Schutz und Erhalt von Bäumen sollte daher stets Vorrang vor Ersatzpflanzungen haben, fordern Naturschützer. Zumal diese oft als Einzelmaßnahmen vorgenommen werden und nicht aufeinander abgestimmt sind. "Es fehlt ein Gesamtkonzept", sagt Michael Osterburg, GAL-Fraktionsvorsitzender in Hamburg-Mitte. "Außerdem werden die Umsetzungen der Ausgleichsmaßnahmen allenfalls sporadisch kontrolliert und dokumentiert."

Die Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (BSU) verfügt zwar über ein zentrales Kompensationskataster, in dem alle festgesetzten Ausgleichsmaßnahmen erfasst werden. Eine Kontrolle der Umsetzung erfolge darüber allerdings nicht, so Sprecherin Kerstin Graupner.

Die Kritik des BUND weist die Behörde jedoch in weiten Teilen zurück. "Die angeprangerten Umsetzungsdefizite betreffen nur einen Teil der Maßnahmen", sagt Kerstin Graupner. Deren Beseitigung sei vom Senat inzwischen "aktiv eingeleitet worden". Die Löffelenten hätten zwar Hahnöfersand nicht angenommen, dafür aber Wattflächen im Holzhafen. Die Ausgleichsmaßnahmen an der Hörner Au seien mittlerweile umgesetzt worden. Dort habe man 100 Hektar Ausgleichsfläche aufgekauft, die landwirtschaftlich genutzt würden. Behauptungen, das Gebiet werde durch die A 20 zerschnitten, träfen nicht zu.

"Die Grundidee der Ausgleichsregelung darf nicht weiter ausgehöhlt werden", fordert BUND-Chef Braasch. Wenn keine geeigneten Ersatzflächen zur Verfügung stehen, müsse der Eingriff im Sinne des Bundesnaturschutzgesetzes untersagt werden.

In Hausbruch ist das geschehen. Dort sollten an einem bewaldeten Hang des Wulmsberges neue Häuser gebaut und die Stichstraße verbreitert werden. Dieses Biotop in Hanglage konnte auf Hamburger Gebiet nicht ausgeglichen werden. Auch die Suche nach Flächen in Schleswig-Holstein und Niedersachsen war erfolglos. So wurde der Plan erst einmal auf Eis gelegt.

Das Bundesnaturschutzgesetz sieht grundsätzlich drei Varianten von Ausgleichsmaßnahmen vor: Der tatsächliche Ausgleich findet in der Nähe des Eingriffs statt, zum Beispiel durch Anlegen ein neues Biotops. Der Ersatz kann räumlich auch woanders liegen, soll aber fachlich dem Eingriff entsprechen - für ein zerstörtes Stück Wald etwa müssen an anderer Stelle Bäume angepflanzt werden.

Die Ersatzzahlung geht an die Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (BSU) und wird von ihr für Naturschutzmaßnahmen eingesetzt. Fallen diese nach Meinung eines Gerichts zu niedrig aus, kann eine Umweltstiftung gegründet werden, um den Eingriff auszugleichen. Im Fall Altenwerder etwa, wo seit den 1970er-Jahren neues Hafengebiet entwickelt wurde, wurde die Stiftung Ausgleich Altenwerder eingerichtet, die Grünflächen ankauft.