Schauspielhaus, Kunsthalle oder HSV: Das Projekt Hamburger Kulturschlüssel ermöglicht bedürftigen und alten Menschen Zutritt zur Kultur.

Hamburg. Auf dem Couchtisch liegt eine Lupe. Der Sessel lässt sich per Fernbedienung verstellen. Und im Flur lehnt ein Rollator an der Wand. So verrät die Wohnung gewissermaßen das Alter ihrer Bewohnerin.

81 Jahre alt ist Marie-Lu Conrad. Doch den Rollator braucht die alte Dame heute nicht. Denn sie hat eine lebende Gehhilfe: Nadine Hildebrandt. Sie will mit Frau Conrad ins Bucerius-Kunst-Forum gehen. Marie-Lu Conrad hat wegen des Ausflugs roten Lippenstift aufgetragen und das kurze graue Haar lockig gefönt. Die beiden Frauen machen mit beim Hamburger Kulturschlüssel, einem Projekt, das es seit 2009 gibt. Die Idee: Ein ehrenamtlicher Kulturbegleiter geht mit einem Menschen, der wenig Geld hat und/oder gebrechlich ist, ins Theater, ins Kino oder auch einmal zum HSV.

50 Hamburger Institutionen machen diese Ausflüge möglich, denn sie spendieren die Tickets. 2500-mal wurde bedürftigen Hamburgern schon ein Kulturgenuss ermöglicht. Diesen Erfolg feiert das Projekt heute Abend bei einem Frühlingsempfang. Kultursenatorin Barbara Kisseler (parteilos) wird das Grußwort sprechen. "Wir haben mit vier Kulturspendern angefangen, heute sind es 50", sagt Frank Nestler von Leben mit Behinderung. "Wir sind sehr glücklich, dass wir von den Kultureinrichtungen in Hamburg so viel Unterstützung bekommen."

150 Hamburger profitieren mittlerweile von dem Angebot, die Hälfte davon sind Senioren, etwa ein Drittel Behinderte, der Rest Migranten und sozial Schwache. 80 ehrenamtliche Begleiter machen insgesamt mit. Es kommt auch vor, dass aus einem sogenannten Genießer ein Begleiter wird. "Viel Freude bereiten mir Menschen, die zu uns gekommen sind, weil sie von Grundsicherung leben und sich keine Karten fürs Theater oder Museum leisten konnten, aber heute selbst als Kulturbegleiter für ältere oder behinderte Menschen aktiv sind", sagt Nestler.

Marie-Lu Conrad und Nadine Hildebrandt stehen inzwischen untergehakt an einer U-Bahn-Station. Keine Rolltreppe, kein Aufzug. Gestützt von ihrer Begleiterin, kämpft sich Conrad hinunter. Die Bahn ist voll. Nur ganz am Ende ist noch ein Sitzplatz für die 81-jährige Frau Conrad frei. "Das sind die Studenten, die haben jetzt alle Schluss", sagt Hildebrandt, die selbst Soziale Arbeit an der HAW studiert. Nach kurzem Durchschnaufen bleibt in der Bahn Zeit für ein Gespräch - über Kultur und das Alter. "Ich bin seit Anfang an dabei", sagt Frau Conrad, der es nicht ausreicht, in ihrem Wohnzimmer auf den Fernseher zu starren. "Theater interessiert mich, aber alleine komme ich da ja nicht hin." Außerdem seien da noch die Eintrittspreise. Marie-Lu Conrad hat stets gearbeitet. Als Balletttänzerin im Zirkus, Packerin in der Fischfabrik, Lageristin bei Hertie - sie hatte viele Jobs. Nun bleiben ihr von ihrer Rente jeden Monat 200 Euro zum Leben. "So eine Karte fürs Theater oder fürs Museum, das könnte ich mir gar nicht leisten."

Vor dem Bucerius-Kunst-Forum am Rathausmarkt treffen die beiden Heiderose Raspel, 68, und deren Begleiter Carsten Bäcker, 38. Sie stehen vor dem Gemälde "Die gelben Mädchen" von Cuno Amiet. "Da ist eine dichte gelbe Blumenwiese, auf der zwei Mädchen sitzen, zu sehen. Deren Haut ist blassgelb. Das ganze Bild wirkt sehr hell und freundlich", sagt Carsten Bäcker. Dabei deutet er parallel auf alles, was er beschreibt, mit seiner Hand. "Das ist ja schön", sagt Raspel und krallt sich mit der linken Hand etwas fester an Bäckers Arm, der sie den gesamten Nachmittag schon stützt. In der rechten Hand hält sie ihren Blindenstock. Frau Raspel kann nur die Umrisse der Kunstwerke erkennen. "Carsten ersetzt meine Augen", sagt sie. Ein zu hoch dosiertes Medikament verursachte einst ihre Sehschwäche, die nun im Alter immer schlimmer wird. "Aber ich habe die Bilder alle im Kopf", sagt Frau Raspel. "Ich weiß, wie der Himmel aussieht." Carsten Bäcker nimmt sich viel Zeit. Ständig überholen andere Besucher die beiden. Der Kulturbegleiter beschreibt die Gemälde erst mit seinen eigenen Worten, beantwortet Raspels Fragen und liest dann die Erklärung vor, die auf Tafeln neben den Bildern steht. "Wenn Carsten mir das vorliest, dann erscheinen all die Dinge, die ich einmal sehen konnte, wieder vor meinem inneren Auge."

Frau Raspel und Carsten Bäcker kennen einander mittlerweile gut. Im vergangenen Oktober haben sie sich "Hello, I'm Johnny Cash" im Altonaer Theater angesehen. "Ich habe gleich gemerkt, dass wir einen ähnlichen Geschmack haben", sagt Frau Raspel. Dazu zählt auch, dass beide einen ausgedehnten Spaziergang einer U-Bahn-Fahrt zum Veranstaltungsort vorziehen. Unterwegs werden private Dinge besprochen, wie der Urlaub an der Nordsee oder die Probefahrt im Fahrradklub. Einmal waren die beiden sogar zusammen essen. "Aus dem Ehrenamt ist eine richtig gute Bekanntschaft geworden", sagt Carsten Bäcker, der an einer Berufsschule arbeitet. Er habe schon länger nach einer Sache gesucht, für die er sich engagieren kann. "Das Projekt Kulturschlüssel fand ich gleich super", sagt er. "Es haben schließlich beide Seiten etwas davon, das gefällt mir."