Die Flut der Daten im globalen Internet führt genau zum Gegenteil von Freiheit: zur Indiskretion als Normalzustand

Unter all den Verheißungen, mit denen das World Wide Web vor gut 20 Jahren startete, stellt die "Transparenz" inzwischen alle übrigen - Freizügigkeit, globale Vernetzung, Magazinierung des Wissens - in den Schatten. Transparenz ist das Kenn- und Jubelwort der Internetgemeinde, Transparenz ist hip und heiß, geil und gut.

Die Signalfunktion des Begriffs überwiegt aber die sachlichen Qualitäten beträchtlich. Ihre Verfechter stellen die Transparenz gern als Erbin der historischen Aufklärung dar, als Antwort auf die "Neue Unübersichtlichkeit" der spätmodernen Demokratien. Deren öffentliche Selbstdarstellung, urteilte bereits in den 80er-Jahren der Philosoph Jürgen Habermas, sei defizitär.

Sollte diese Diagnose noch Gültigkeit besitzen, wäre "Transparenz" eine fragwürdige Therapie. Transparenz verspricht Durchblick, Durchsichtigkeit, auch Durchlässigkeit. Was könnte schwammiger sein, was abstrakter, was naiver als eine solche Perspektive? Weit davon entfernt, eine gute Lösung zu sein, ist "Transparenz" zunächst eine grobe Vereinfachung. Genau das, was man ein falsches Versprechen nennt: ein Versprechen, das einzuhalten unmöglich ist. Das liegt daran, dass der Versuch der Transparenzherstellung in der Praxis regelmäßig (mit Notwendigkeit) zu neuer Intransparenz führt - eine Erfahrung, die jeder kennt, der die Angaben liest, die sich auf Lebensmittelpackungen stetig vermehren. Transparenz ist eine selbstwidersprüchliche Forderung. Sie lässt die Flut der Daten steigen, überlässt diese dann aber sich selbst. Prompt setzt ein Kreislauf ein: Die selbst erzeugte Diffusität schreit erneut nach Transparenz, diese erzeugt wieder Diffusität und immer so weiter.

Problematischer noch ist etwas anderes. Transparenz ist ein atmosphärischer Begriff, er spielt mit Gefühlen. Ohne Greifbares zu benennen, gestattet er doch die Aktivierung von Vorurteilen und rechtfertigt eine reine, sich selbst genügende Entschlossenheit. Funktional betrachtet, verleiht Transparenz dem Verlangen nach Selbstermächtigung Ausdruck, sie ist eine Feldherrnfantasie. Zu ihren größten Bewunderern gehörten Leute wie Robespierre und McCarthy, fanatische Freunde der Freiheit, deren Freundschaft die Freiheit zu ersticken drohte. "Transparenz" bezeichnet exakt den Zustand der Gesellschaft, den Schnüffler und Schreckensherrscher wählen würden, wenn sie sich etwas wünschen dürften.

Überzogen sind derlei Vergleiche leider nicht. Wie nah wir der jakobinischen "Gewaltherrschaft der Freiheit" (Robespierre) gekommen sind, zeigt eine persönliche Erfahrung: Nachdem die Wissensplattform Wikipedia in den Artikel über meine Person das Geburtsdatum eingefügt hatte, bat ich die Redaktion um die Rücknahme des sensiblen Details. Dies wurde abgeschlagen: Die Angabe sei durch "Kürschners Gelehrtenkalender" belegt, eine Entfernung komme "daher nicht infrage": Das ist die Sprache der Selbstherrlichkeit. Für das Internet gilt, dass das pathetische Ideal der Transparenz schon heute einen Normalzustand der Indiskretion, der Illiberalität und der öffentlichen Zurschaustellung rechtfertigt, in dem die Bedürfnisse der Einzelperson gleichgültig und die Teilöffentlichkeiten der Berufsgruppen, Vereine und Gesellschaften, der Nischen und Milieus gleichgeschaltet sind.

Umso rätselhafter ist die Begeisterung, die der Forderung nach Transparenz entgegenschlägt. Da vor allem die Internetgemeinde dieser Faszination erliegt, dürfte es die Situation vor dem Bildschirm sein, die Transparenz als Wert an sich erscheinen lässt. Von diesem Ideal träumen Leute, die der Illusion erlegen sind, die ihnen die User-Situation vorgaukelt und die ihnen der Name des Standard-Betriebssystems ins Hirn gestanzt hat: der Illusion, dass der Screen eine Scheibe ist.