Eine Aufwertung der Krankenpflege ist nicht nur notwendig - sie ist längst überfällig

Es dauerte nicht lange, bis die bürgerlichen Warnrufe wieder durch die Arena der Öffentlichkeit schallten. Der Präsident der Bundesärztekammer sieht das Pflegesystem vor einer "Überakademisierung". Und Gesundheitsminister Daniel Bahr, Mitglied der inoffiziellen Ärzte-Partei FDP, wehrte sich in Brüssel gleich persönlich gegen die Pläne der Europäischen Union. Die Kommission der EU hat im Dezember vorgeschlagen, dass Kranken- und Altenpfleger künftig in allen Ländern Europas zwölf Jahre Schulbildung nachweisen müssen - in Deutschland das Abitur.

Das Anrennen der akademisierten Ärztelobbyisten gegen den Vorstoß der EU erinnert an die Klientelpolitik der Lokführer und Hamburger Schulreformgegner. Eine moderne Bahngesellschaft funktioniere nur mit gut bezahlten Lokführern, eine gute Bildung nur mit einem strikt gegliederten Schulsystem, so die Warnrufe. Doch ist diese eindimensionale Argumentation eher Ausdruck einer elitären Besitzstandswahrung. Weit weg vom Alltag in Bahnen, Schulen - und Krankenhäusern.

Natürlich will niemand eine "Überakademisierung". Deutschland braucht keinen "Dr. Pflege" - aber eine Aufwertung des Berufes ist dringend notwendig. Die Pläne der EU sind richtig. Es gibt zunächst einmal naheliegende Gründe dafür: In 25 von 27 EU-Staaten sind zwölf Jahre Schulzeit längst Voraussetzung, Deutschland sollte sich europäischen Standards anpassen. Ganz entscheidend ist auch die Anerkennung, die dieser Beruf durch eine höhere Qualifikation erfährt. In Krankenhäusern geht es um das Wichtigste, was der Mensch hat: seine Gesundheit. Es geht um Würde des Patienten und Verantwortung des Personals. Die Schere zwischen Bedeutung des Berufs und durchschnittlich 1600 Euro Netto-Gehalt klafft eklatant auseinander. Mit der Qualifikation muss auch die Bezahlung steigen. Wer neben diesen naheliegenden Argumenten tiefer einsteigt in das deutsche Gesundheitswesen, erkennt den Wandel, den die Pflege in den vergangenen Jahrzehnten erfahren hat - ein Wandel, der eine Aufwertung des Berufes längst gebraucht hätte. Seit Mitte der 1990er- Jahre haben Klinken mehrere Zehntausend Vollzeitstellen in der Pflege gestrichen, der Leistungsdruck steigt. Gleichzeitig werden Therapien und Medikation komplexer. Das Personal in Krankenhäusern muss oftmals eine ganzheitliche Pflege koordinieren zwischen Chirurgen, Ergotherapeuten und Anästhesisten. Gleichzeitig führen Pfleger Dienstpläne, legen Infusionen und werten Pflegedokumentationen aus. 2100 Theoriestunden umfasst eine Ausbildung zur Pflegekraft heute.

Das Abitur als Grundlage für diese Ausbildung ist ein erster wichtiger Schritt. Doch Patienten müssen auch gewaschen, gebettet oder verpflegt werden. Dafür benötigen die Pflegekräfte kein Wissen über Differenzialgeometrie. An der Seite des Personals mit Hochschulreife braucht es Helfer. Gerade eine Aufwertung der Pflege wird zu einer stärkeren Staffelung und Auffächerung der Berufsfelder in Kliniken führen. Professionalisierung und Spezialisierung sind Eckpfeiler der modernen Dienstleistungsgesellschaft. Stellen als Assistenten bieten auch Quereinsteigern und gering Qualifizierten eine Chance.

Doch eine Aufwertung birgt Risiken: Eine examinierte Krankenschwester, die nur noch ihre Station managt und keine Patienten mehr wäscht, verliert den Kern ihrer beruflichen Identität: den Kontakt zum Menschen. Faires Gehalt für Pflegepersonal ist längst überfällig. Eine anspruchsvolle Balance zu halten zwischen Management und Knochenarbeit am Patienten ist die größere Herausforderung für eine attraktive Zukunft des Pflegeberufs. Doch gelingt diese Gratwanderung, ist sie das beste Medikament im Kampf gegen Pflegenotstand und Fachkräftemangel.