Joachim Gauck genießt seine Kandidatur für das Bundespräsidentenamt. Eine Reportage von Gaucks “Wahlkampfauftakt“ in seiner Rostocker Heimat.

Sie sind alle gekommen, um ihn zu sehen. Sie warten vor der Thomas-Morus-Gemeinde auf ihren ehemaligen Pastor. Sie stehen in Grüppchen und erzählen von früher. "Weißt du noch, wie er sein Manuskript vergessen hat?", sagt eine aufgeregte Frau. "Aber das machte nix. Reden konnte er ja schon immer." Weißt du noch, wie er damals von Haus zu Haus ging und sich als Pastor vorstellte? Weißt du noch, wie er den Jugendlichen geholfen hat, die Probleme mit der Stasi hatten? Ja, sie wissen noch. Sie haben Joachim Gauck nicht vergessen.

Der Mann, auf den die Menschen an diesem Sonnabend vor der Rostocker Kirche warten, ist vor über 20 Jahren, nach jenem stürmischen Herbst 1989, aus Rostock weggezogen. Er ließ sein vertrautes Leben hinter sich, wurde Chef der Stasi-Unterlagenbehörde.

Und jetzt, im Alter von 70 Jahren, kandidiert er für das Amt des Bundespräsidenten. Sein Leben hat er der Freiheit gewidmet. Sehnsüchtig hat er damals mit seinen Rostocker Gemeindemitgliedern darauf hingearbeitet. Als die Freiheit im Herbst 1989 kam, lernte er, dass sie nicht nur Glück ist, sondern auch Beschwernis. Und Verantwortung. Deshalb will er jetzt Bundespräsident werden. Er findet, dass die Regierenden und die Regierten "Sprachstörungen" haben. Die will er beheben. Er findet, dass viele Ostdeutsche immer noch zur Freiheit ermächtigt werden müssen. Und dass es einen Dolmetscher zwischen Ost und West geben muss. Gauck ist kein Mann der Selbstzweifel: Er bezeichnet sich selbst als "reisenden Demokratielehrer".

Und dann steht er vor seiner ehemaligen Kirchengemeinde, mit einem Pulk von Kameraleuten und Fotografen. "Hallo!", ruft Joachim Gauck, er erkennt viele Menschen wieder. "Tini! Tach, mein Herzchen!", ruft er einer älteren Frau zu, holte sie zu sich und rückt sie so zurecht, dass die Kameras gute Bilder machen können. Tini hat mit ihm Abitur gemacht. Gauck spricht Mecklenburger Platt, strahlt, umarmt Menschen, verteilt Küsschen, tätschelt Wangen. Er ist immer noch ihr Pastor. Er hat die Menschen, die er trifft, getraut. Er hat ihre Kinder getauft, konfirmiert, verheiratet. In der DDR waren sie Außenseiter, weil sie an Gott glaubten und nicht an den Kommunismus. Mag sein, dass der Termin schon länger feststand: Aber es ist, als ob Gauck nicht zufällig an diesen Ort zurückgekehrt ist, um seinen Bundespräsidentschaftswahlkampf zu beginnen. Hier, bei den Menschen, die ihn verstehen.

Der Rummel der vergangenen Tage hat Joachim Gauck gefallen. Er genießt es, aus seinem Kiez in Berlin-Schöneberg auszubrechen und für ein paar Wochen Aufmerksamkeit zu bekommen, egal wie die Wahl am 30. Juni ausgeht. Gauck hat wieder einen Fahrer. Er hat zwei Pressesprecher. "Herr Schulze! Bleiben Sie bitte in meiner Nähe!", donnert Gauck dem einen Sprecher zu. Sein Team, das er "mein Stab" nennt, besteht aus sieben Mitarbeitern. Als in der vergangenen Woche jeder etwas vom Kandidaten Gauck wollte, war dessen Stab völlig überfordert. Die Sprecher sprachen nicht. Die Telefone im eilig bezogenen Büro in der SPD-Zentrale in Berlin klingelten, und keiner ging ran.

Der Popularität Gaucks hat das nicht geschadet: Im Internet gründeten sich Unterstützergruppen mit den Namen wir-fuer-gauck.de, mein-praesident.de oder go-for-gauck.de. Gauck setzte eine Videobotschaft ab. "Ich bin 70 und nicht oft im Internet unterwegs", erklärte er darin. Und: "Das ist ja unglaublich, das ist ja fantastisch."

Dann ist er nach Rostock gefahren. Er hat am Morgen einen Vortrag an der Universität gehalten mit dem Titel "Ost und West - eine Betrachtung deutscher Verhältnisse". Er hat ausländischen Studenten erklärt, "dass Ihr Vortragsredner für das höchste Amt in diesem Staat kandidiert. Zurzeit steht er vor Ihnen mit überschaubaren Chancen." Dann fügte er noch andächtig hinzu: "Es ist aber auch so, dass die politische Klasse nicht genau weiß, ob das Berechenbare das ist, was Politik darstellt. Auch diejenigen, die die Mehrheiten verwalten, sind in einen ernsten Prozess des Nachdenkens geraten."

Seine Kandidatur passt in sein Staatsverständnis: Der Staat ist nicht nur der Staat derer, die Staat machen in ihm. Sondern es ist der Staat der Bürger. Der Bürger, die unzufrieden sind mit der Politik - und mit der schwarz-gelben Koalition ganz besonders. Über seine gestiegenen Erfolgschancen sagte er: "Da schauen wir mal. Wir sind immer noch voller Erwartung." Die Studenten haben geklatscht. Er hat's genossen.

In seiner ehemaligen Kirche haben sie ihm Tisch und Stuhl neben dem Altar aufgebaut. Gauck nimmt Platz. Es wird still, die Abendsonne, die durch die bunten Fenster dringt, taucht den Raum in warmes Licht. Gauck schaut in die vielen Gesichter und sagt nachdenklich: "Wir treffen uns wieder als Veränderte." Er hat sein Buch mitgebracht: "Winter im Sommer - Frühling im Herbst". Er liest so präzise und ruhig, wie er spricht. Wenn es nötig ist, benutzt er die Hände, Pastor bleibt Pastor.

Es war Sommer, der 27. Juni 1951, und er war zehn Jahre alt, als die Kommunisten seinen Vater, einen Kapitän, nach Sibirien deportierten. Er hatte nichts verbrochen, lediglich eine Fachzeitschrift aus dem Westen besessen. Es reichte für zweimal 25 Jahre Haft. Für Gauck war Winter im Sommer. Seit jenem Moment war Joachim Gauck gegen das System. Auch als der Vater nach vier Jahren frühzeitig, aber völlig ausgemergelt zurückkehrte, änderte sich an der Haltung nichts. Konrad Adenauer hatte sich damals erfolgreich in Moskau für die Freilassung deutscher Gefangener aus Ost und West eingesetzt.

Joachim Gauck blieb im Osten, weil er in der Kirche einen Frei- und Schutzraum fand und weil er seine Aufgabe in der DDR sah. Er wurde Pastor, seine zweite Stelle führte ihn in das Rostocker Neubaugebiet Evershagen. "Wir, die Theologen, dürfen die Menschen nicht verlassen", sagte er damals.

Gottesdienste fanden erst in Hauskreisen in den Plattenbau-Wohnungen der Mitglieder statt, später dann in der katholischen Thomas-Morus-Gemeinde. Christen mussten in der DDR über die Konfessionsgrenzen hinaus zusammenrücken. Die Kinder gingen zur Christenlehre. Gauck zeigt auf eine Frau, die weiter hinten im Kirchenschiff sitzt. "Das ist Frau Carlson. Sie war sehr, sehr mutig. Obwohl sie in einem staatlichen Betrieb gearbeitet hat, stellte sie ihre Wohnung für die Christenlehre zur Verfügung." Vor der Wohnungstür standen schon mal 30 Paar Kinderschuhe, die linientreuen Nachbarn waren wenig begeistert. Auch im ersten Kirchengemeinderat, der zunächst in Gaucks Wohnung tagte, war Frau Carlson Mitglied. Ihr Sohn war der Einzige im Jahrgang, der keine Jugendweihe erhielt, stattdessen konfirmiert wurde. Ursula Carlson strahlt, als Gauck ihren Namen nennt. "Er ist wie früher. Obwohl er sagt, dass er sich verändert hat. Aber vielleicht wollen wir ihn nicht anders sehen", sagt sie.

Beim Kirchentag 1988 rief Stadtjugendpfarrer Gauck den DDR-Oberen vor 40 000 Menschen zu: "Wir werden bleiben wollen, wenn wir gehen dürfen!" Mit dem Satz kam er sogar in die "Tagesschau". Bleiben oder gehen? Seine Kinder fanden eine andere Antwort als er, auch weil sie in der DDR kein Abitur machen durften und ihnen die Universitäten verschlossen blieben, da sie nicht zu den Jungen Pionieren gingen. Im Dezember 1987 standen Gauck und seine Frau zweimal auf Bahnsteig 9 des Rostocker Hauptbahnhofs, im Abstand von nur einem Tag. Erst reiste Sohn Christian aus, dann Martin. Am Heiligen Abend 1987 fehlten zwei Kinder, zwei Schwiegertöchter, drei Enkelkinder. "Es ist wie ein Tod", sagt Gauck leise, man merkt ihm an, wie hoch der Preis des Freiheitskampfes war.

Dann kam der Frühling im Herbst 1989. Gauck wurde zum "Revolutionspastor", gründete mit anderen das Neue Forum, predigte vor Tausenden, organisierte Protestmärsche. In Rostock gab es keine Montags-, sondern Donnerstagsdemonstrationen. Zusammen mit Ursula Carlson und Tausenden anderen zog Gauck vor die Rostocker Stasi-Zentrale und zündete Kerzen auf den Fenstersimsen an. "Hinter den Fenstern standen Männer mit Gewehren", sagt Ursula Carlson.

Die Mauer fiel, Gauck wurde Berufspolitiker, ging nach Berlin und wurde beauftragt, die Staatsverbrechen der DDR aufzuklären.

Und jetzt? "Ich hoffe, wir sind immer noch das Volk", sagt Gauck. "Der Stolz von 89/90 lebt nicht mehr in uns. Damals waren wir stark. Wir waren bei uns." Die Deutschen liebten es, betrübt zu sein, Gauck spricht von einer "Unkultur des Verdrusses". Er kann die Ostdeutschen verstehen, schließlich seien viele arbeitslos geworden. Sie seien nicht zur Freiheit ermächtigt worden. "Viele sind deshalb zurück in das Lager der Ohnmächtigen gezogen", sagt er.

Für ihn gibt es keine Alternative zur Freiheit. "Zeigt mir ein System, das besser ist!", hat er schon damals, zu DDR-Zeiten, gesagt, als viele seiner Mitstreiter im Neuen Forum für einen "Dritten Weg" eintraten. Und er sagt es auch heute. Gauck ist ein Ossi-Versteher, ja. Aber er ist auch ein Wessi-Erklärer. Gauck wirbt für mehr Bürgerbeteiligung, er will dafür sorgen, dass Ossis und Wessis mehr miteinander reden. Und dass die Politiker mehr mit dem Volk reden.

Dann liest er wieder aus seinem Buch, das letzte Kapitel, über Freiheit. "Als Ostdeutscher, als Betroffener einer osteuropäischen Verlustgeschichte weiß ich aber deutlicher als die, die immer über sie (die Freiheit) verfügt haben, dass wir, wenn wir uns nicht immer wieder von ihr beflügeln und befähigen lassen, auch an Kraft und Willen zur Veränderung einbüßen." Die Freiheit werde ihm "immer leuchten".

Er ist fertig mit seiner Lesung, viele Menschen im Raum haben Tränen in den Augen. Sie klatschen lange. Er selbst wirkt ergriffen. Joachim Gauck erhebt sich, breitet die Hände aus, als wolle er die Zuneigung seiner alten Gemeinde einfangen. Er bekommt Blumen. "Damit Sommer im Sommer ist", sagt die Frau aus der Gemeinde. Er bedankt sich und sagt: "Unser Treffen heute ist wie damals, als wir gemeinsam aufgestanden sind." Aufgestanden gegen die DDR.

Am Ende dieses Abends steht Joachim Gauck vor seiner alten Kirche. Er wirkt nachdenklich. "Nein, genießen kann ich diese Zeit der Kandidatur nicht. Ich muss arbeiten", sagt er. Manchmal habe er Sehnsucht nach der Sehnsucht. Damals, als er Freiheit nicht hatte, war sie ungeschmälert schön. Jetzt, wo er sie hat, ist es manchmal auch beschwerlich mit ihr. Die Zeiten haben sich geändert, er sich auch. Sein Freiheitsdrang aber nicht.

Joachim Gauck sagt: "Wer Befreiung erlebt, befreundet sich auf ganz andere Weise mit der Freiheit."