Am 2. Dezember 1963 trifft Aydin Özer in Hamburg ein. Er kommt aus Ankara. Fünf Jahre arbeitet er bei der Post, er schläft in einem Postwohnheim. Dann kann er sich endlich selbstständig machen, dann kann er seine Frau Nuran nachholen. Am 27. April 2010 wird Aygül Özkan in Hannover ihr Amt als neue Sozialministerin des Landes Niedersachsen antreten. Sie zieht nach Hannover, ihr Sohn und ihr Mann, der eine Arztpraxis hat, bleiben vorerst in Hamburg. Aydin Özer ist 74, seine Tochter Aygül Özkan 38.

Fast 47 Jahre liegen zwischen diesen beiden Ereignissen, die das Leben der Familien Özer/Özkan verändern. Steht man in der Änderungsschneiderei von Aydin Özer an der Max-Brauer-Allee, hat man das Gefühl, noch einmal ganz am Anfang zu sein. Im Schaufenster, das mit einem alten Bügeleisen und einer womöglich noch älteren Nähmaschine dekoriert ist, verkündet ein Schild im Stil der Sechzigerjahre: "Wir modernisieren und reparieren." Drei Stufen führen hinauf zu den beiden Räumen, in denen der Vater der neuen Sozialministerin seit mehr als 40 Jahren arbeitet. Aydin Özer ist ein wacher, lebendiger, ein leicht amüsierter Herr, der heute einen Prachttag hat. Weil Menschen seine Geschichte hören wollen, weil Gratulanten kommen. Der Leiter des Gymnasiums Allee war da und hat eine Rose gebracht, die Frau von der Sparkasse hat ihn beglückwünscht. Und dann schneit Ingeborg Borkner herein, eine sorgfältig frisierte Dame, die früher in der Nachbarschaft Haare geschnitten hat. Sie hat Tränen in den Augen, als sie sagt: "Sie sind der Vater einer Ministerin, das ist ja ganz toll."

Aydin Özer bleibt in all dem Trubel ganz ruhig. Da ist ja die alte Ladentheke, da liegen die bunten Garnrollen, da stehen die beiden Pfaff-Nähmaschinen, daneben ein paar einfache Holzstühle und ein mit einer Plastikdecke geschützter Tisch: alles Dinge, die seit 40 Jahren da sind, die haltbar sind und Halt geben an einem Tag, den man schon als verrückt bezeichnen darf.

Auf dem Tisch liegt ein Exemplar der "Hürriyet", auf der Titelseite ein Foto von Angela Merkel und Aygül Ökzan. "Sogar Verwandte aus der Türkei haben schon angerufen", sagt Özer. Er ist bis obenhin stolz auf seine beiden Töchter, nicht nur auf die Ministerin. Aber er sagt es ganz zurückhaltend: "Ich bin sehr zufrieden mit den Töchtern." Tolerant sei er bei der Erziehung gewesen, sagt er. "Ich komme aus Ankara, aus der Großstadt", sagt er. Als er neu in Hamburg war, haben sie ihm bei der Post beibringen wollen, mit Messer und Gabel zu essen. Er kann es bis heute nicht verstehen, wie jemand auf diese Idee kommen kann.

Die Töchter waren gut in der Schule. Der Vater hatte sie im Blick. Genau gegenüber der Änderungsschneiderei, im Gymnasium Allee, haben sie Abitur gemacht. Jeden Tag um 9 Uhr, in der Pause, kamen sie zu ihm in den Laden. "Dann gab es Kekse und Tee", sagt Özer. Natürlich haben sie am Schwimmunterricht teilgenommen. Natürlich durften sie weggehen - wenn sie einen Zettel mit einer Telefonnummer zurückließen. Dass beide Kinder, Aynur und Aygül, studiert haben, war ihm recht. "Ich habe gesagt: Ich arbeite für euch."