Für den Hamburger Tobias Hinz (20) hätte die Feier seines Abiturs vor eineinhalb Jahren beinahe tödlich geendet.

Er war noch auf dieser Welt. Aber für Tobias Hinz stand diese Welt still, sie ging ohne ihn weiter. 15 Tage lang. So lange lag Tobias 2008 im Koma. Als er wieder erwachte, konnte der Gymnasiast weder lesen noch schreiben. Selbst das Gehen musste er wieder lernen. Monatelang dauerte sein Kampf zurück ins Leben. Wenn die Menschen heute in der Silvesternacht das alte Jahr verabschieden, wird Tobias aus Eidelstedt auf ein ganz besonderes Jahr zurückblicken. Nachdem sein Leben fast vorbei war, bevor es richtig angefangen hatte, war 2009 sein Erfolgsjahr.

"Schreckens-Sturz am Gymnasium Dörpsweg in Hamburg-Eidelstedt: Tobias H. ist aus drei Metern Höhe gefallen und bewusstlos liegen geblieben", so stand es zwei Tage nach dem Unglück am 18. Juni 2008 in der Zeitung. Es war ein Montag, als Michael Ballack Deutschland zum Sieg gegen Österreich schoss, die Abi-Party am Gymnasium Dörpsweg losgehen konnte und als Tobias mit dem Kopf auf den Erdboden aufschlug. "Es ist krass, wie eine heile Welt so schnell aus den Fugen gerät. Nur wegen eines falschen Schrittes", sagt Tobias.

Er musste die zwölfte Klasse wiederholen und wollte beim Abi-Streich seines ehemaligen Jahrgangs dabei sein. Die Abiturienten wollten ihre Schule auf den Kopf stellen, hatten neue Wände in die Flure gesetzt und Eier als Wurfgeschosse bereitgelegt. Und klar, Alkohol wurde auch getrunken.

"Ich war mit Freunden im ersten Stock der Schule. Entweder waren wir zu blöd oder zu faul, die Treppe wieder herunterzugehen. Jedenfalls war ich es wohl, der vorgeschlagen hat, aus dem Fenster aufs Vordach zu springen und dann herunterzuklettern. Mein Freund Werner ist vorgesprungen. Ich war wohl zu weit auf die Kante des Vordaches gesprungen und bin auf einer Holzbank direkt auf den Gehwegplatten gelandet", erzählt Tobias zu Hause in der Küche. Seine Eltern hören zu, erklären vieles, was Tobias gar nicht weiß. Erinnern kann sich ihr ältester Sohn nicht mehr an den Unfall.

Tobias lag im Koma und wachte zunächst nicht mehr auf. Mehrere Blutgerinnsel im Kopf wurden diagnostiziert. Der Arzt am Albertinen-Krankenhaus rechnet zu der Zeit noch damit, dass Tobias jeden Moment aufwachen würde. Aus dem Moment wurden mehr als zwei Wochen. Seine Mutter und sein Vater wechselten sich ab, einer war immer am Krankenbett ihres Sohnes. Während er im Koma lag, feierten seine Freunde Abi-Ball, schmiedeten Zukunftspläne. Sie träumten von einem Studium in den USA oder Abi-Reisen nach Schweden oder Ibiza. Für Tobias dagegen stand die Zeit still, er war in seiner eigenen dunklen Welt, öffnete nur manchmal kurz die Augen und sprach jeden, der ihn besuchte, mit "Mama" an.

"Ich war verwirrt und überrascht, als ich dann nach 15 Tagen im Krankenhaus aufwachte. Ich wusste überhaupt nicht, was passiert war", sagt Tobias. Er musste alles neu erlernen. Elke Hinz: "Ich musste ihm zeigen, was man mit einem Löffel macht, dass man ein Brötchen essen kann." Tobias legte ein immenses Lerntempo an den Tag. In anderen Fällen, hätten die Ärzte gesagt, blieben Menschen mit solchen Kopfverletzungen gelähmt oder behindert. Laufen, sprechen, schreiben. Das alles war neu für Tobias. Das angepeilte Abitur war weit weg, schien unerreichbar.

In der Reha, die fast drei Monate dauerte, lernte Tobias Englisch- und Deutschklausuren aus der Hauptschule. In Mathe, das war früher sein Leistungskurs, übte er Klammerrechnung wie in der sechsten Klasse. "Die erste Zeit hatte ich permanent Kopfschmerzen. Nach zwei Stunden mit Freunden konnte ich nicht mehr und musste mich ausruhen." Vier Monate in der Schule hat Tobias verpasst. Doch der 20-Jährige entwickelte einen Ehrgeiz, den sein Vater ungesund nennt - aber wohl auch ein bisschen bewundert. Tobias geht nach der Reha wieder in die Schule, will sein Gehirn trainieren. "Ich wollte so schnell wie möglich den Stoff aus der Schule nachholen." Gleichzeitig schreibt er 30 Bewerbungen, falls es mit dem Abi doch nicht klappt. Auch mit dem Fußballspielen, seiner größten Leidenschaft, fängt er wieder an. Mit einem Fahrradhelm als Kopfschutz. Mutter Elke machte sich natürlich trotzdem Sorgen um ihren Sohn, wollte nicht, dass er Fußball spielt. Aber sein Wille hat Tobias weit gebracht: Ein Jahr nach dem Unfall hat er das Abitur bestanden und einen Ausbildungsplatz zum Kaufmann im Gesundheitswesen bekommen. "Das habe ich auch geschafft, weil meine Familie, Freunde und die Schule mich unterstützt haben." Das Geschehen hat Tobias verändert: "Ich trinke keinen Tropfen Alkohol mehr. Ich habe erkannt, welches meine echten Freunde sind. Meine Freundin Eileen, Freunde und meine Familie sind mir wichtiger geworden." Das Leben, sagt Tobias, geht weiter, als sei nichts passiert. "Es läuft bestens."