Die Hamburger hatten nur einen Gedanken: überleben! Sie gingen stehlen. Sie schickten ihre Kinder zu den Bauern betteln. Mehr als 4500 Kohlendiebe wurden in nur einem Monat verurteilt. Erst ein dramatischer Appell von Bürgermeister Max Brauer änderte etwas.

Der Hund meiner Mutter, ein schwarz-weiß-gelblicher Pekinesenmischling, fraß Kartoffelschalen. Gierig schlabberte Schacki die Abfälle weg, roh oder gekocht, immer vor dem Emailleherd mit dem knisternden Feuer. Mich interessierte als Kind der sonntägliche Streuselkuchen mit den braunen Mandelsplittern im Herd mehr. Warum in den Gesprächen meist "die schlechte Zeit" eine Rolle spielte, verstand ich damals nicht.

Es waren die Erinnerungen an den Winter 1946/47, die immer wieder wach wurden. An den "Hungerwinter", der die Menschen beutelte, die gerade Fronteinsatz, Bombardierung, Gefangenschaft oder Vertreibung überlebt hatten.

In Hamburg kosteten der "Schwarze Hunger" und der "Weiße Tod" 85 Menschen das Leben. Eine monatelange Kältewelle ließ die Stadt von Mitte Dezember bis Mitte März erstarren. Nichts zu essen, keine Kohlen, kein Strom.

Schon im September hatte die Militärregierung den Hamburgern mitgeteilt, dass mit einer Zuteilung von Kohle im Winter kaum zu rechnen sei. Tatsächlich wurden dann zwei Drittel der Kohle von den Zügen, die Richtung Hamburg fuhren, von den Zügen gestohlen. Ein 20-Tonnen-Wagen war in einer halben Stunde mit den Händen leer geräumt. Im Januar 1947 verurteilten Schnellrichter mehr als 4500 Kohlendiebe. Straßenbäume verschwanden in Öfen.

Die Menschen gingen "Kohlen stehlen". Oder sie fuhren mit Eimern und Schüsseln zu den Bauern aufs Land, um zu betteln. "Zwischen dem Hühnermist sollten wir uns satt essen", sagte Zeitzeuge Martin Schneider in einem beeindruckenden NDR-Film, den am Sonntag mehr als vier Millionen Menschen im Fernsehen verfolgten. Damals war er als Kind betteln gegangen. "Das war für mich so deprimierend, dass ich mir gesagt habe: Nie wieder gehst du betteln."

In Hamburg regierte das Notprogramm. In den Krankenhäusern konnte von 9 bis 21 Uhr nicht operiert werden. Kinos, Theater und Vergnügungslokale schlossen. Straßen- und Hochbahn stellten zeitweise den Verkehr durch die Trümmerlandschaft ein.

Auch in anderen großen Städten gingen die Aufbauarbeiten nur schleppend voran. Wohnraum war knapp. Bundesweit lebten 20 Millionen Menschen in Ruinen. Mehr als zehn Millionen Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten mussten untergebracht werden. Der Rhein fror auf 60 Kilometer Länge zu; die Elbe war völlig vereist; Kohle konnte nur der Zug, aber kein Binnenschiff bringen.

Ein Teufelskreis kam hinzu: Unterernährte Bergleute konnten weniger Kohle fördern. Sie hatten nicht genug zu essen, weil der Import von Nahrungsmitteln nicht bezahlt werden konnte. Denn die Industrie konnte keine Exportwaren herstellen, weil Kohle fehlte.

Lebensmittelkarten gab es einmal im Monat in unterschiedlichen Farben: für Erwachsene, für Kinder, für Menschen, die zum Beispiel auf dem Bau schwere Arbeiten verrichten mussten. Die Rentnerkarten, für die man nur so wenig bekam, dass es kaum zum Überleben reichte, hießen "Sterbekarten". Erst mal blieb es bei einer täglichen 1550-Kalorien-Hunger-Ration. Im Februar gab es auf den Tag umgerechnet: 380 Gramm Brot, 35 Gramm Nährmittel, 350 Gramm Kartoffeln, 35 Gramm Fleisch, 17 Gramm Fett, 4 Gramm Käse, 17 Gramm Zucker.

Wenn es überhaupt etwas gab. Denn häufig standen die Menschen nach stundenlangen Fahrten vor leer geräumten Regalen. Anfang 1947 sank die Zuteilung auf 770 Kalorien täglich (so viel hat heute ein doppelter Hamburger).

Die Situation in der Hansestadt wurde immer dramatischer. Am 6. Januar 1947 hatten die Hamburgischen Electricitäts-Werke (HEW) nur noch Kohle für sechs Tage. Aus Dänemark und Schweden trafen Lebensmittel ein. Die "Schwedenspeisung" versorgte täglich 42 000 Kinder. Die Schweiz öffnete ihre Grenzen für Kinder. Care-Pakete trafen ein.

Im Februar schrieb Bürgermeister Max Brauer an die britische Militärregierung und kündigte eine Katastrophe mit vielen Tausend Opfern an, wenn nicht etwas geschieht - "und zwar bald". Am 22. Februar vereinbarte Brauer mit der Militärregierung, dass Hamburg vorrangig mit Kohle beliefert wird. 3900 Tonnen täglich für die HEW und die Gaswerke. Drei Tage später begannen Massenspeisungen in Schulen und Gaststätten mit Gaskochern. Am 14. März wurde wieder Strom geliefert. Am 18. März kletterte das Thermometer in Hamburg auf minus zwei Grad. Ein Tag später taute es.

Warum unser Hund Schacki in diesen Zeiten eine Vorliebe für Kartoffelschalen entwickeln konnte, erfuhr ich dann aus Erzählungen. "Wir hatten wenigstens Kartoffeln", sagte meine Großmutter, "weil wir in Appen auf die Felder durften, wenn die Kartoffeln ausgemacht waren."

In Appen im Kreis Pinneberg konnte man bei Bauern Nahrung tauschen; Milch erhielten meine Großeltern für ihre Pferde, die dort arbeiteten. "Milch - ein Glas Milch trinken, das war schon was, in der schlechten Zeit ..." hieß es immer wieder. In Hamburg gab es diese Tauschmöglichkeit nicht.

Haben Sie noch Erinnerungen an den Hungerwinter 1946/47? Schreiben Sie uns! Sie erreichen uns unter www.abendblatt.de/hungerwinter oder per Post: Hamburger Abendblatt, Lokalredaktion, Stichwort "Hungerwinter", Kaiser-Wilhelm-Straße 20, 20350 Hamburg.