Die Tänzerin Silvia Azzoni und der HSV-Mittelfeldstar Zé Roberto sprechen über Schönheit, Disziplin und den Preis ihrer Leidenschaft.

Hamburg. Ihre Bühnen könnten gegensätzlicher kaum sein. Und doch haben Primaballerina Silvia Azzoni und Fußballprofi Zé Roberto etwas gemeinsam: Sie arbeiten körperlich an Grenzen, manchmal auch jenseits davon.

Für die Ballettschüler, vor allem für die Jungs, ist es das Highlight der Woche. Wie ein Lauffeuer hat es sich in John Neumeiers Ballettinternat verbreitet: Zé Roberto kommt. Jungs und Mädchen in Pluderhosen, Trainingsjacken und Wärmepuschen umschwärmen den HSV-Spieler im Treppenhaus, sie kichern und recken die Köpfe. Eine brasilianische Schülerin möchte ein gemeinsames Foto, alle wollen Autogramme, und auch unser Interview kann erst beginnen, nachdem Silvia Azzoni, Primaballerina in der Neumeier-Compagnie, und ihr Mann Alexandre Riabko sich per Handykamera mit dem Fußballstar fotografiert haben. Zé Roberto ist höflich und etwas schüchtern, Silvia Azzoni sprüht vor Lebensfreude, lacht laut und viel. Die beiden verstehen sich trotz ihres unterschiedlichen Temperaments auf Anhieb. Was sie vor allem verbindet: die Perfektion des Körpers und die Frage, wie viel man ihm wie lange noch zumuten kann.

Silvia Azzoni: Ich habe gehört, du bist verletzt? Das tut mir sooo leid! Ich hatte vor Kurzem einen Muskelriss. 80 Prozent der Muskeln waren kaputt. Eigentlich eine typische Fußballerverletzung. Als ich vom Arzt kam, habe ich danach gegoogelt, und es kam nur Fußball, Fußball, Fußball.

Abendblatt: Was für ein Gefühl ist das, wenn man ein solcher Bewegungsmensch ist und nicht spielen, nicht tanzen kann? Wohin geht die Energie?

Zé Roberto: Man wird traurig. Traurigkeit ist das beherrschende Gefühl. Ich bin ja schon 35 Jahre alt und spiele seit so vielen Jahren - aber verletzt war ich fast nie. Das macht es umso schwerer, so lange stillhalten zu müssen.

Azzoni: Als ich vor zehn Jahren meine erste schwere Fußverletzung hatte, war das auch ein großer Schock. Es war das erste Mal, dass ich krank war, und ich konnte ein ganzes Jahr nicht tanzen. Jetzt weiß ich, dass fast jede Verletzung mit Verstand und Disziplin zu überwinden ist. Man kann zurückkommen. Du wirst sehen.

Abendblatt: Aber man lernt die Grenzen des Körpers kennen.

Azzoni: Ja, es ist eine schreckliche Situation. Man denkt immer wieder: Warum habe ich diese Bewegung nicht eine Sekunde später gemacht?

Abendblatt: Kommt in solchen Momenten der Gedanke an das eigene Alter? Der Gedanke: Früher wäre mir das nicht passiert?

Azzoni: Was wir machen, Zé und ich, ist jede Minute gefährlich! Man muss immer damit rechnen, dass so etwas passiert. Es hat nicht nur mit dem Alter zu tun.

Abendblatt: Es gibt ja ohnehin das echte und das gefühlte Alter. Wie alt fühlen Sie sich?

Azzoni: Bei jeder Röntgenaufnahme sagt der Arzt: Du hast Knochen und Gelenke wie eine alte Frau. Aber wir Tänzer müssen häufig junge Rollen spielen, und oft passiert es, dass man sich jünger fühlt, als man ist. Ich fühle mich nicht wie 36, eher wie 25 (lacht). Aber wenn ich morgens aufwache, fühle ich mich wie 100. Nach dem Frühstück wie 80, dann wird es immer besser ...

Abendblatt: Zé, kennen Sie das?

Zé Roberto: Noch nicht, aber das kommt vielleicht bald. Ich fühle mich auch eher wie 26, 27. Kürzlich war ich mit meinem neunjährigen Sohn im Park spazieren. Da kam eine ältere Frau und sagte: Oh, wie schön, er ist mit dem kleinen Bruder unterwegs!

Abendblatt: Frau Azzoni, dürfen Sie eigentlich Fußball spielen?

Azzoni: Nee!

Zé Roberto: Nee?

Azzoni: Wir dürfen nicht Rollschuh fahren, nicht Ski fahren - (flüstert) das habe ich aber doch gemacht vor ein paar Jahren! (lacht) -, und Fußball ist natürlich gefährlich wegen der Sprunggelenke. Ich weiß gar nicht, ob das im Vertrag steht, dass wir das nicht dürfen, aber man sollte das wohl nicht tun.

Abendblatt: Tanzen Sie gern, Zé?

Azzoni: Samba!

Zé Roberto: Nein!

Azzoni: Nein?! Aber es ist nicht verboten, oder?

Zé Roberto: (lacht): Nein, es ist nicht verboten, ich kann es einfach nicht. Es ist schöner anzugucken, wenn andere es tun.

Abendblatt: Was bedeutet Schönheit für Sie? Wann finden Sie jemanden schön?

Zé Roberto: Wenn ich bei einem Menschen an Schönheit denke, denke ich an den Charakter.

Abendblatt: Eine lobenswerte Antwort - aber auch Sie schauen doch bei einem Menschen, dessen Charakter Sie noch nicht kennen, erst einmal auf seine äußere Erscheinung, oder?

Zé Roberto: Ja, es gibt natürlich viele schöne Dinge an den Menschen. Das können die Augen sein, die Haare, der Körper. Aber wichtig finde ich die Haltung. Wie jemand hereinkommt und sich bewegt.

Abendblatt: Frau Azzoni, auch Sie sind jeden Tag von Menschen umgeben, die nach allgemeinen Maßstäben als schön gelten: trainiert, zierlich, jung. Beeinflusst das ihr Schönheitsideal?

Azzoni: Ich glaube nicht an ästhetische Schönheit. Ich habe manchmal Modeschauen im Fernsehen geguckt, alles schöne Frauen, jung, schlank, schöne Haare. Aber wenn ich zehn Minuten zugeschaut habe, bin ich leer. Eine Person muss mit ihrem Charakter verbunden sein, sonst sieht man keine Schönheit.

Abendblatt: Und doch geht es bei Ihnen beiden vor allem darum, den Körper zur Perfektion zu bringen. Gerät man nie in Gefahr, eitel zu werden, den Körper wichtiger als alles andere zu nehmen?

Zé Roberto: Es geht uns ja nicht um ein Schönheitsideal, auch wenn wir das vielleicht vorleben. Es geht uns um Fitness, die brauchen wir nun einmal. Ich mache das ganz bestimmt nicht dafür, dass, wenn ich nach dem Spiel mein T-Shirt ausziehe, die Zeitungen dann schreiben: Guck dir dieses Sixpack an. Mir geht es darum, dass ich gewisse Ziele im Leben habe. Dazu gehört, dass ich mit 35 noch spielen kann.

Abendblatt: Diese Ziele haben einen Preis. Wie sehr gehören Schmerzen zu Ihrem Leben?

Zé Roberto: Fußballer spielen selten ohne Schmerzen, das war bei mir in der jüngsten Vergangenheit auch ab und zu der Fall. Dann nimmt man eben mal eine Tablette. Wir spielen so oft, sind immer in Kontakt mit dem Boden und mit anderen Spielern, die Bundesliga ist sehr körperbetont. Mit Schmerzen kann man sein Talent und sein Können natürlich nicht so ausspielen wie ohne.

Azzoni: Wir haben auch Schmerzen! Nicht so kontinuierlich, dass man den Tanz nicht mehr genießen könnte. Aber wir haben Muskelkater, Entzündungen in irgendeiner Sehne, Prellungen, manchmal auch große Verletzungen. Ich hatte bisher eine Stressfraktur in meinem Fuß, eine in meinem Schienenbein, ein Wirbel war umgeknickt, meine Schulter war ausgekugelt, meine Nase war dreimal gebrochen. (Zé Roberto fragt den Dolmetscher, ob er das wirklich richtig verstanden hat.) Ja, Schmerzen haben wir auch viel.

Abendblatt: Und tanzen Sie auch unter Schmerzmitteln, so wie Fußballer mit Schmerzmitteln spielen?

Azzoni: O ja! (lacht) Gib mir meine Schmerzmittel! Nein, das ist natürlich nicht gut. Man betäubt eine schmerzende Stelle und das Verletzungsrisiko steigt. Außerdem ist es schlimm für den Magen. Aber es geht oft nicht ohne.

Abendblatt: Der Körper muss funktionieren.

Azzoni: Mit Schmerzen zu tanzen ist eine Qual. Ich konnte einmal nicht mehr auf die halbe Spitze gehen, hatte in jedem Training Tränen in den Augen. Nach ein paar Monaten Voltaren habe ich gedacht, es geht nicht mehr, ich hatte keinen Spaß mehr.

Zé Roberto: Ein paar Monate?!

Abendblatt: Betäubt man damit nicht auch seine Leidenschaft?

Azzoni: Ja, schon.

Abendblatt: Zé, ein paar Monate Voltaren - Sie fanden das gerade sehr viel. Gibt es das im Fußball nicht auch?

Zé Roberto: Ich habe gerade zehn Tage Schmerzmittel genommen und fand das schon sehr viel.

Azzoni: Ich habe Freunde, die seit Jahren täglich Aspirin nehmen.

Abendblatt: Haben Sie je das Gefühl, Ihre eigenen Körper zu missbrauchen?

Azzoni: Manchmal spüre ich, dass wir die falschen Dinge tun. Aber das, was wir tun, dieses Niveau, kann man nur erreichen, wenn man die Schmerzen ignoriert. Man kann nicht wegen jedes Schmerzes eine Pause machen.

Zé Roberto: Was soll man denn machen? Es gibt Trainingstage, an denen man denkt: Das kann jetzt nicht sein. Als ich einmal Saisonvorbereitung mit Felix Magath hatte, da bin ich fast ohnmächtig aus dem Training gekommen. Da denkt man schon: Was muten wir unseren Körpern eigentlich zu?

Abendblatt: Im Fußball kümmert sich der Verein um die Körper seiner Spieler. Gibt es im Ballett auch Physiotherapeuten, eine medizinische Abteilung, die für die Körper des Ensembles mitverantwortlich ist?

Azzoni: (lacht) Ach, wenn wir das im Fernsehen sehen, wie die Ärzte beim Fußball aufs Spielfeld laufen, sind wir manchmal neidisch! Warum haben wir so etwas nicht? Wenn wir uns verletzen, müssen wir selbst zum Arzt. Als ich mich verletzt habe, hat mein Mann mich ins Krankenhaus gebracht. Ich brauchte dann eine Krankschreibung, weil ich nicht arbeiten konnte. Die Rehabilitation ist meine Sache.

Abendblatt: Wo ist die Grenze bei Medikamenten? Dort, wo der erlaubte Bereich aufhört? Oder müsste mehr freigegeben werden, weil die Belastungen für die Körper nun mal so hoch sind?

Zé Roberto: Wenn man Mittel nimmt, die von den Schmerzen befreien oder in der konkreten Verletzungssituation helfen, ist alles okay, was legal ist. Was darüber geht, ist etwas, was hilft, die Leistung zu steigern. Das muss man klar voneinander abgrenzen. Man sollte nicht weiter als zum Limit gehen. Außerdem muss der Trainer entscheiden, was dem Spieler zugemutet werden kann. Es ist ja ein Unding, dass man in der Vorbereitung so heftig trainiert, dass ein Spieler in Ohnmacht fällt.

Abendblatt: Wir haben vorhin über das Alter gesprochen: Ist es nicht auch eine verlockende Vorstellung, wenn einem der Körper eines Tages wieder selbst gehört und niemand mehr darüber verfügen kann?

Zé Roberto: Natürlich ist es positiv, dass die Leistung heruntergefahren werden kann, die man seinem Körper abverlangt. Aber ich werde auch nach meiner Karriere dafür sorgen, dass mir mein Körper nicht entgleitet, und ihn unter Kontrolle halten. Mein Sixpack muss ich nicht unbedingt behalten, aber ein Bierbauch kommt nicht infrage. Ich möchte einen Trainingsrhythmus finden, der mich fit hält und mir eine Gesundheit ermöglicht, damit die Menschen einmal sagen: Schau mal, der Alte, wie gut der noch konserviert ist!

Azzoni: Im Urlaub wird einem schon jetzt bewusst, wie sehr man selbst die körperliche Fitness spüren will. Wir brauchen es, fit zu sein, das ist unser normales Körpergefühl.

Abendblatt: Frau Azzoni, nicht nur für das Tanzen bleiben nur noch wenige Jahre, in Ihrem Alter denkt man eigentlich über Kinder nach. Blendet man das als Primaballerina aus?

Azzoni: Mein Mann denkt immer: Na, jetzt, jetzt ... Ich habe aber in den vergangenen zwei Jahren so viele schöne Rollen getanzt, ich fühlte mich wirklich auf dem Höhepunkt meiner Karriere. Wir waren zum Tanzen in Japan, Australien, Taiwan - da zu pausieren wäre schade. Aber meine letzte Verletzung zwang mich, fünf Wochen nicht zu tanzen, ich fand einen anderen Lebensrhythmus, und ich habe gedacht: Ja, das könnte klappen.

Abendblatt: Die Angst war weg, dass das Tanzen Ihre einzige Erfüllung ist?

Azzoni: Genau. Manchmal denke ich: Mit 39, 40 höre ich vielleicht auf mit dem Tanzen, und dann? Was? Wir haben hoffentlich eine noch viel längere Lebenszeit, man kann sich nicht nur aufs Tanzen konzentrieren. Doch, ein Kind ist erwünscht.

Abendblatt: Sie haben beide in sehr jungen Jahren angefangen.

Azzoni: Mit acht.

Zé Roberto: Mit sieben.

Abendblatt: ... wie sehr ist Ihre Identität also mit Ihrem Beruf verbunden? Wenn Sie an die körperliche Grenze stoßen - wer sind Sie danach?

Azzoni: Es ist ein schwieriger Schritt. Ich bin Tänzerin, seit ich ein kleines Mädchen war. Das ist mein Leben. Ich bin Silvia, die Tänzerin. Danach wird es schwer sein, weil die Routine fehlen wird, die Proben, die Vorstellungen, auch nachts denkt man doch immer an den Tanz. Viele Freunde, die aufgehört haben, sagen, der Prozess braucht zwei oder drei Jahre. Man braucht Zeit, sich zu finden. Sich neu zu erfinden. Es gibt Ex-Tänzerinnen, die leben in der Vergangenheit. Ich weiß, dass ich zwei Leben haben werde. Ich werde eine Wiedergeburt erleben.

Zé Roberto: Als Feldspieler kann ich vielleicht bis 37 spielen, 38 wird schon sehr schwer. Natürlich mache ich mir jetzt schon Gedanken über das Danach. Ich möchte eine Stiftung für bedürftige Kinder in Brasilien gründen, und ich kann mir vorstellen, Trainer zu werden, Manager, Berater. Ich will dem Fußball treu bleiben.

Abendblatt: Wollten Sie nicht Pastor werden?

Zé Roberto: Ja, das sehe ich auch als Begabung, aber dafür brauche ich Zeit. Dafür möchte ich einen Theologiekursus machen oder Theologie wirklich studieren. Was ich direkt nach meiner Karriere wirklich gern machen möchte, ist viel schlafen.

Abendblatt: Außer auf Schlaf - worauf müssen Sie bis dahin noch verzichten?

Zé Roberto: Mit meinen Kindern das Wochenende zu verbringen, das kann ich nie machen, das ist etwas, was ich aufgeben muss für meine Karriere. Mit dem Essen habe ich kein Problem. Dann mache ich den nächsten Tag eben ein bisschen mehr ...

Azzoni: Ich habe auch das Glück, dass ich beim Essen auf nichts verzichten muss. Mein Körper verbrennt alles sehr schnell. Andere Tänzerinnen müssen viel mehr aufpassen, die können kein Öl oder keine Butter essen.

Abendblatt: Würden Sie Ihren Kindern auch erlauben oder empfehlen, Profisportler oder Tänzer zu werden?

Zé Roberto: Klar würde ich das erlauben. Ich fände es auch schön, weil ich dann die gleichen emotionalen Momente wie meine Mutter erleben könnte. Aber mein Sohn möchte nicht Fußballer werden. (Er zieht die Hosenbeine hoch, zeigt die vielen Narben an seinen beiden Schienbeinen.) Mein Sohn sagt: Wenn ich das sehe an deinen Beinen, möchte ich kein Fußballer sein. Für mich war es immer ein Traum, Profifußballer zu werden, für meinen Sohn ist es eher ein Trauma, weil ich so oft weg bin. Er kann es nicht abwarten, bis ich aufhöre zu spielen, damit ich mehr Zeit mit ihm verbringen kann. Bei Kindergeburtstagen kann ich fast nie dabei sein. Bei der Geburt meines Sohnes kam ich zwei Stunden zu spät, weil ich ein Spiel hatte. Das ist manchmal nicht so einfach.