Stadtteile standen auf dem Kiez Pate für Redewendungen. “Der kommt aus Harburg“ heißt: “Er hat keine Ahnung“.

"Wenn die Sonne unterging auf St. Pauli, erwachte der Nachtjargon", sagt der Sprachforscher Dr. Klaus Siewert (55). Der Experte für "Sondersprachen" meint damit jene typischen Begriffe aus dem Rotlichtmilieu, deren Bedeutung und Herkunft ihn faszinieren und die in Vergessenheit geraten. Denn das Idiom stirbt langsam aus.

Um es zu retten, ist Siewert noch einmal in diesen "sprachlichen Mikrokosmos" abgetaucht, in die Sprache, "die resthaft noch heute auf St. Pauli gesprochen wird". Sein Buch "Hamburgs Nachtjargon. Die Sprache auf dem Kiez in St. Pauli", erstmals erschienen 2002, hat er jetzt für eine zweite Fassung überarbeitet und mit neuen Begriffen ergänzt.

Dieses Buch widmet er der Kiezgröße Stefan Hentschel, "der mir nicht nur den Nachtjargon, sondern die Kultur des Kiezes näher gebracht hat", sagt der Forscher. Hentschel (58) erhängte sich 2006 im Boxkeller der legendären Kneipe "Zur Ritze". Der Autoelektriker, der sich Jahre zuvor von der Zuhälterei losgesagt hatte und der erzählte, er sei viermal abgestochen und zweimal angeschossen worden, überraschte den Wissenschaftler mit seinen, so Siewert "genialen Antworten". Etwa auf die Frage, warum er aus dem Bordellgeschäft ausgestiegen sei: "Irgendwann habe ich begriffen, dass ich die Zeit zu meiner Geliebten machen müsse und tunlichst zusehen sollte, mit ihr Schritt zu halten." Für dieses Zitat bürgt der Wissenschaftler, ebenso für den Ausspruch, abgedruckt unter dem Foto des 100-Kilo-Hünen Hentschel: "...im übrigen ist ein Foto nur eine gefrorene Sekunde im Leben eines Menschen".

Unter den neuen der mehr als 1000 Wörter hat Siewert auch jene aufgelistet, die auf Hamburger Stadtteile zurückgehen und die benutzt wurden, um Verhaltensweisen oder Charaktereigenschaften zu umschreiben.

Danach ist ein "Bergedorfer" ein unsicherer Typ, "von dem man nicht weiß, wo er hingehört", abgeleitet von Bergedorf, das im Wechsel mal von Hamburg, mal von Berlin regiert wurde. "Es ist alles Berne", bedeutet: Es ist alles in Ordnung, auch: Es interessiert mich nicht, es ist weit weg. Oder jemand hat "alles Farmsen vermacht". Im Klartext: Alles Geld ist verspielt - in Anspielung auf die Trabrennbahn in Farmsen.

"Der kommt aus Harburg" bedeutet in der Kiezsprache: "Der hat keine Ahnung", in Anlehnung nach der erst spät eingemeindeten, südlich der Elbe gelegenen Arbeitervorstadt.

Nach diesem Muster gibt es weitere Ausdrücke, die weit über die Region Hamburg hinausreichen. Als "Breslauer" wird im Rotlichtmilieu jemand bezeichnet, der als harmloser Gast oder Freier aus den ehemaligen Ostgebieten Deutschlands kommt, "die Preisverhältnisse auf dem Kiez" nicht einzuschätzen weiß und ein leichtes Opfer werden kann. "In Berlin sein" ist ein Synonym für "unseriöse Geschäfte mit hohem Risiko und entsprechender Gewinnaussicht". "Auf Sylt sein" heißt, sein Geld auszugeben oder auf Urlaubsreise zu sein, unabhängig davon, ob die nach Sylt führt.

Auch der Zweitauflage liegt eine CD bei mit der Tonkopie "zweier vergessener Hamburger Lieder". Der Bandleader des Quartetts "Die Playboys" aus den 1960er-Jahren, Volker Zaum, hatte ein Band gerettet mit den Liedern "Achiele toff" und "Nachtjargon", ein für die Sprachforschung wichtiger Beleg, "eines der ältesten Tondokumente deutscher Geheimsprachen".

In der Neuauflage hat Siewert, der in Münster und Paderborn lehrt und Gründer und Präsident der Internationalen Gesellschaft für Sondersprachenforschung ist, Wörter und Wendungen aufgenommen, die ihm Leser des ersten Buches übermittelten. Auch wenn einige "nicht zum Sprecherkreis auf St. Pauli gehören", im Gegensatz zu den "authentischen Informationen" der Kiezgröße Hentschel, baut der Forscher auch auf sie, denn "Wörter kennen keine Grenzen". Zudem sei es typisch für diese Sprachformen, "dass sie nach außen abstrahlen und von außen nehmen".

Klaus Siewert, Hamburgs "Nachtjargon", Die Sprache auf dem Kiez, 26,90 Euro, ISBN 3-00-01781-X, Geheimsprachenverlag 2009