Schwere Vorwürfe gegen die Lebenshilfe Schenefeld: Verein lässt zwei 20-Jährige ohne Erfahrung eine Woche lang vier Behinderte betreuen.

Hamburg. Vincent Bork erhebt schwere Vorwürfe gegen die Lebenshilfe Schenefeld - die sie abstreitet. Es ist kurz vor ein Uhr nachts, als Franz* endlich ruhig wird und einschläft. Matthias L. und Vincent Bork stehen unter Spannung, hören auf jedes Türklappern auf dem Gang, weil Franz zum Schlafwandeln neigt und auch Finn recht unternehmungslustig ist. Seit sechs Tagen geht das jetzt so. Matthias und Vincent sitzen in ihrem kargen Zimmer im Hotel Mediterraneo in Estepona in der Nähe von Malaga und sind hundemüde. Die beiden 20-Jährigen betreuen vier behinderte Erwachsene. Jeden Tag müssen sie sie waschen, die Männer rasieren, sie ankleiden. Sie helfen beim Toilettengang. Oder beim Reinigen, wenn Franz in die Hosen gemacht hat. Das Erlebnis mit Markus, der sich bei Aufregung mit Wucht auf den Kopf schlägt, hat die beiden verunsichert, ebenso wie die Ankündigung von Heide, dass sie sich das Leben nehmen möchte. Um 5 Uhr morgens wird sie auch heute wieder weinend vor der Tür stehen. Und dann haben sie noch den Zettel, auf dem steht, dass sie Markus eine Tablette Tavor geben sollen, wenn er "heftig laut schreit".

Vincent und Matthias sind zwei Abiturienten. Mit Behindertenbetreuung hatten sie noch nie zuvor etwas zu tun. Jetzt sind sie allein mit den vieren. Losgeschickt von der Lebenshilfe Schenefeld. Für 30 Euro am Tag. Um "bei organisatorischen Dingen" zu helfen. Jetzt haben sie einen Rund-um-die-Uhr-Job.

Die Lebenshilfe Schenefeld ist ein großer Verein. Gegründet 1979, betreut der Verein mehr als 600 Behinderte. In Wohngruppen, Werkstätten, Kitas. Viele ehrenamtliche Helfer engagieren sich in dem Verein, um den Benachteiligten helfen zu können. Die Lebenshilfe hat klare Grundsätze. "Um leben zu können wie andere auch, brauchen geistig behinderte Menschen motiviertes und gut ausgebildetes Fachpersonal." So steht es in den Leitlinien. Und es gibt klare Regeln. Die Kriterien für eine Reise mit Behinderten seien, "dass die Begleitpersonen Erfahrung im Umgang mit Menschen mit Behinderung haben", sagt Christa Lewon, Geschäftsführerin der Lebenshilfe Schenefeld. Warum wurden dann aber zwei gänzlich Unerfahrene nach Spanien geschickt? Sie seien gar nicht unerfahren gewesen. "Eine Begleitperson hatte die individuelle Betreuung Schwerstbehinderter im Rahmen eines Zivildienstes geleistet", so Lewon. Doch das stimmt nicht, sagt Vincent: "Ich war eine Art Hausmeister im Kindergarten. Ich habe keine Erfahrung mit Behinderten."

Genau wie sein Freund Matthias. Der kam nur mit, weil Vincent gefragt wurde, ob "ich nicht einen Kumpel mitbringen könne". Vorstellen musste sich Matthias bei der Lebenshilfe nicht. "Es wurde uns freigestellt, ob wir die vier in ihren verschiedenen Wohngruppen einmal besuchen wollten, um die Behinderten kennenzulernen. Ich fand das wichtig, deswegen sind wir hin", sagt Vincent. Da wurde ihnen Markus vorgestellt: ein Autist, der fast nie redet, stark gehbehindert ist. Die Betreuerin zeigte, wie Markus gewaschen werden müsste. "Sie sagte: ,also von mir lässt er sich nicht die Vorhaut zurückziehen, aber vielleicht schafft ihr es'", erzählt Matthias. "Ich war schockiert und dachte nur, ich kann so was gar nicht", ergänzt Vincent.

Vor der Abreise wurden Medikamentenboxen überreicht. Morgens und abends sollten sie Markus und Heide die Pillen geben. "Ich hatte keine Ahnung, was die Pillen für Nebenwirkungen hatten und was passieren würde, wenn wir sie mal vergessen würden", sagt Matthias.

Sie bekamen einen Arztbericht und noch ein Päckchen Tavor mit. "Wir haben uns nicht getraut, das Zeug zu geben", sagt Matthias. Das war gut so, denn Tavor ist ein verschreibungspflichtiges, hochwirksames Beruhigungsmittel, das gut gegen Angstzustände wirkt, aber auch schnell abhängig macht. Es hat einen hohen Schwarzmarktwert.

"Hier wurde eine Grenze überschritten. Die Verordnung des Arztes wurde hier in die Hände medizinischer Laien gelegt, was unvorhersehbare Folgen für die Patienten haben kann. Die jungen Männer hätten sich bei der Abgabe von verschreibungspflichtigen Medikamenten wie Tavor womöglich strafbar machen können", sagt der Hamburger Medizinrechtler Jens-Arne Reumschüssel dazu.

Lebenshilfe-Geschäftsführerin Christa Lewon betont zwar, "dass Bedarfsmedikation in keinem Fall gegeben werden darf von ungelernten Kräften". Warum die beiden jungen Männer dennoch aufgefordert wurden, es zu tun, dazu äußerte sie sich nicht.

Die Reise der Behinderten-gruppe nach Spanien sieht sie unproblematisch. "Ich habe nur positive Rückmeldungen erhalten." Außerdem seien zwei ehrenamtliche Helfer vor Ort gewesen. "mit 80 Stunden im direkten Einsatz und in ständiger Rufbereitschaft". Die Rede ist von Margret und Heinz Piel, dem Gründer und Vorsitzenden der Lebenshilfe Schenefeld. Beide haben in der Nähe des Hotels ein Appartement.

Vor Ort waren sie tatsächlich. "Wir dachten, die sind verantwortlich, aber sie haben nur ein paar Ausflüge mit uns allen gemacht. Den Alltag mussten wir mit den Behinderten alleine bestreiten", sagt Matthias. Waren die Piels 80 Stunden, also gut elf Stunden pro Tag, im Einsatz? "Das stimmt einfach nicht. Es gab Tage, an denen wir sie nur zum Mittagessen oder abends mal für eine Stunde gesehen haben."

Der junge Mann, der bald sein Studium beginnen will, wird wütend, wenn er an die Reise denkt. "Ich fühle mich einfach nur ausgenutzt, hintergangen und empfinde es als absolut verantwortungslos gegenüber den Behinderten, dass die Lebenshilfe uns losgeschickt hat." Erwartet haben sie einen scheinbar einfachen Ferienjob. Zudem behauptet Lewon, "dass die Begleiter umfassend aufgeklärt werden vor der Reise, welche Hilfestellungen die Behinderten benötigen". Außer bei Markus wussten sie nichts über nötige Hilfestellungen oder die Art der Behinderungen, sagen sie. Es zeigte sich schnell, dass die Behinderten rund um die Uhr beaufsichtigt und betreut werden mussten. "Von Selbstständigkeit keine Spur", sagt Vincent. Da es in dem Low-Class-Hotel keine Verpflegung gab, musste die Gruppe zum Essen jedes Mal raus. 15 Euro war die tägliche Verpflegungspauschale pro Person. "Das reichte hinten und vorne nicht", sagte Vincent.

Geplant war die Reise als Badeurlaub, aber schwimmen wollte keiner der vier Behinderten - im Gegenteil, bis auf Patrick hatten alle Angst vor dem Wasser. Bei zu viel Trubel bekam Karsten Angstzustände und schlug sich mit den Fäusten auf den Kopf. Einmal wurde es kritisch, als Heide fast eine halbe Stunde verschwunden war. "Ich wäre nicht mehr froh geworden, wenn da was passiert wäre", sagt Vincent. Keiner von ihnen hatte zuvor eine schriftliche Vereinbarung unterschrieben, es gab keinen Arbeitsvertrag, "wir hatten nichts Offizielles in der Hand", sagt Matthias.

Nach sieben Tagen waren die beiden dann einfach nur froh, als sie wieder unbeschadet in Hamburg landeten. Von der Lebenshilfe bekamen sie jeder 240 Euro für ihren Job. Keiner fragte sie, wie es gewesen sei.

Im Nachhinein denkt Vincent, dass sie die Reise hätten abbrechen sollen, "aber das wollten wir den Behinderten nicht antun, die hatten sich so gefreut".

* Die Namen wurden verändert.