Zwischen Elbchaussee und Friedensallee treffen zwei Welten aufeinander: bürgerliches Wohnquartier und ehemaliges Arbeiterviertel.

Hamburg. Christian Weitendorf (28) wohnt im Haus Nummer 43, ganz oben unterm Dach. "Ich bin vor sieben Jahren eingezogen und lebe sehr gern in der Straße", sagt der Software-Ingenieur. Weil immer etwas los ist und man morgens schnell Brötchen kaufen oder im Café einen Galao trinken kann. Ein weiterer Grund liegt in 42 Meter Tiefe, im Keller des Hauses mit der himbeerfarbenen Fassade: Einigen Berichten zufolge soll dort vor mehr als 200 Jahren der Heilbrunnen entdeckt worden sein, der der Großen Brunnenstraße den Namen gab. "1899 hat mein Urgroßvater das heutige Haus samt Getränkefabrikation gekauft", erzählt Weitendorf jun. Der Brunnen versiegte 1942, der Getränkehandel schloss in den 70er-Jahren. Das Haus blieb in Familienbesitz. "Mein Vater ist hier aufgewachsen, mein Bruder lebt mit Familie unten, und seine beiden Computerfirmen sitzen auch hier."

Wie kaum eine andere Straße spiegelt die Große Brunnenstraße den Wandel in Ottensen - und seine unterschiedlichen Seiten. Von der Elbchaussee bis zur Friedensallee, von schick bis schmuddelig. "Der südliche Teil war immer bürgerlich, der nördliche bis in die 70er-Jahre Industrie- und Arbeiterviertel", sagt Gaby von Malottki (59) vom Stadtteilarchiv. Folge bis heute: Die Straße ist geteilt - das Lebensgefühl auch. Wann er das letzte Mal auf der anderen Seite gewesen sei? Christian Weitendorf zuckt mit den Achseln. "Das ist fast Ausland", sagt sein Vater Werner Weitendorf (70), ein Architekt, schmunzelnd.

Die Grenze ist "Bei der Reitbahn", dem einstigen Pferdeplatz dänischer Husaren, über den die Große Brunnenstraße verläuft. "Dahinter hört es auf mit ,Schöner Wohnen'", sagte Bärbel Klevenhaus (39), die mit Mann und Kind auf 94 Quadratmetern in einem der städtischen Rotklinker-Blocks lebt, die in den 80er-Jahren auf der Industriebrache hochgezogen wurden. Hier ist es enger, die Nachbarschaft anonymer, und "morgens wird man von der Dusche der Nachbarn geweckt". Trotzdem: Die Praxismanagerin lebt gern in der Großen Brunnenstraße. Es gibt noch den Kiosk, der nahezu immer geöffnet hat und auch Brötchen und Kaffee anbietet. In den Hinterhöfen betreiben Tischler und Maler ihr Gewerbe, der Spielplatz auf dem Kemal-Altum-Platz ist gerade neu gestaltet. "Und die Mieten sind günstiger", sagt Bärbel Klevenhaus. Allerdings ist der Wandel auch hier in vollem Gange. Sicheres Zeichen: Ganz am Ende der Straße, an der Friedensallee, wo bis vor Kurzem ein rödeliger Discount-Markt war, ist die Bio-Kooperative "Warenwirtschaft" mit Café eingezogen. In den Lofts auf dem Gelände der ehemaligen Gerbereimaschinenfabrik Clasen residieren Kreativfirmen, nebenan entstanden diverse Wohnbauten, und in den neuen Läden kann man Tierspielzeug und Kinderschuhe kaufen. Das Subotnik gibt es - noch. 1987 hatte Sabine Klüver in der ehemaligen Fischräucherei im Hinterhof ein Wohnprojekt mit Disco aufgezogen. "Im nächsten Jahr sind wir weg", sagt sie. Der Komplex, zu dem auch die Bar Blaues Barhaus gehört, soll abgerissen werden. Eigentumswohnungen sind geplant.

"Klar, das Viertel war früher viel alternativer", sagt Simon Weitendorf (36). Der älteste Sohn der Familie lebte schon als Kind einige Jahre in der Großen Brunnenstraße, bevor er mit seinen Eltern nach Flottbek zog. 2001 kam er zurück. "Jetzt ist es ein anderer Mix, aber nicht schlechter." Direkt im Nebenhaus arbeiten die Illustratoren Christian Hager (47) und Godelava Jipp (30) in der "Neuen Zeichnerei" - quasi im Schaufenster. Bäcker Schmidt backt gute Laugenbrötchen, im Blumenkeller verkauft Floristin Nadine Kuhr (27) auch Kartoffeln und Eier. Eine Tier-Homöopathin und eine Physiotherapie-Praxis für Tiere gibt es, eine Kinderlederhosen-Schneiderin und bei "Stückwerk" schöne Keramik. Die Jungs von "Broadsupport" machen Werbefilme und bei "Erbse und Wurzel", der Casting-Agentur der Ratiopharm-Zwillinge Gyde Schäfke und Folke Schmidt, dreht sich alles um Zwillinge. Gegenüber wird griechischer Wein ausgeschenkt.

"Leute, die von überall herkommen, haben hier ein Zuhause gefunden", sagt Schauspieler und Ex-"Tatort"-Kommissar Karl-Heinz von Hassel (70). Seit 29 Jahren wohnt er in der Straße - und ist ein echter Fan. "Trotz Umstrukturierung hat sie ihre Lebendigkeit behalten."

Legendär auch der Kneipenstandort an der Ecke zur Eulenstraße. Jahrzehntelang war dort der "Vogel", eine der ersten Szenekneipen Hamburgs. Jetzt stehen die Leute vor der Pfälzer Stube "Hatari" Schlange. "Da war ich noch gar nicht", sagt Christian Weitendorf. Dafür geht er regelmäßig ins Café Lisboa, inzwischen ein sozialer Treffpunkt. "Bei uns scheint morgens die Sonne", sagt Betreiberin Carla Evaristo (38). Weitendorf nickt. Außerdem ist der Friseur gleich gegenüber. Eine Straße wie ein Dorf. Für ihn gehört unbedingt auch der Floppi-Imbiss dazu, "eine echte Institution und Nachrichtenbörse". Seit 30 Jahren brutzeln Elfriede Knüppel (70) und ihr Sohn Karsten (46) jeden Tag frische Pommes, Currywurst und gebratene Hähnchen. "Da war ich schon als Kind mit meinen Eltern, und das schmeckt immer wieder prima."