Die Jugendhilfestatistik beweist: In Hamburg wurden im vergangenen Jahr deutlich mehr Kinder in staatliche Obhut genommen.

Hamburg. Der Fall "Jessica", als in Jenfeld 2005 eine Siebenjährige qualvoll verhungerte, hat in Hamburg tiefe Spuren hinterlassen. Nachbarn, Jugendämter, Gerichte - sie alle sind seitdem deutlich sensibilisierter, wenn es um Vernachlässigung von Kindern geht. "Mehr Menschen melden uns, wenn sie in ihrem Umfeld beobachten, dass ein Kind möglicherweise gefährdet ist", bestätigte Jasmin Eisenhut, Sprecherin der Sozialbehörde, dem Abendblatt. Eine neue Statistik belegt die Beobachtung: Hamburgs Gerichte haben Eltern im vergangenen Jahr deutlich häufiger das Sorgerecht entzogen als noch im Jahr 2007 - insgesamt 516 Mal. Die Gerichte würden zum Wohl des Kindes schneller reagieren, erklärte Behördensprecherin Eisenhut.

Bedenklich sei aber, dass bei vielen Eltern offenbar noch immer die Bereitschaft fehle, Hilfsangebote zu nutzen und so einem Entzug des Sorgerechts zu entgehen. Ziel der Stadt sei daher vor allem, Familien so früh wie möglich zu erreichen. So seien präventive Programme, etwa Familienhebammen und Hausbesuche, "massiv ausgebaut" worden. Zudem investiere die Stadt insgesamt 4,2 Millionen Euro, um bis 2010 die Zahl der Eltern-Kind-Zentren von derzeit 22 auf 46 mehr als zu verdoppeln.

Auch SPD-Politiker Thomas Böwer, der eine Anfrage an den Senat gestellt hatte, ruft zu einer besonnenen Bewertung der Zahlen auf. "Jetzt mit Schaum vor dem Mund den öffentlichen Stellen Versäumnisse vorzuwerfen, wäre falsch." Ein ganzer "Strauß von Gründen" sei für diese Entwicklung zu untersuchen. "Wichtig ist, dass wir dieses gesellschaftliche Problem erkennen und intensiv darüber beraten."

Die Zahl der Sorgerechtsentzüge im Jahr 2008 entspricht einem Anstieg um 17,3 Prozent gegenüber 2007, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Das letzte juristische Mittel, um die Gefährdung eines Kindes auszuschließen, wird notwendig, wenn das Wohl des Kindes gefährdet wird und die Eltern "nicht gewillt oder nicht in der Lage sind", dies abzuwenden.

Alarmierend sind die Zahlen vor allem in drei Bezirken: In Wandsbek stieg die Zahl der Fälle um 75,4 Prozent auf insgesamt 100, in Bergedorf wurde in 60 Fällen die elterliche Sorge entzogen, das sind 17 Fälle mehr als im Vorjahr. In Mitte erhöhte sich die Zahl der Gerichtsentscheidungen um 53 auf 230, während in Harburg die Zahlen rückläufig sind - ein Rückgang um zwölf Fälle, der auch mit der Eingliederung des Stadtteils Wilhelmsburg in den Bezirk Mitte zusammenhängen könnte. In Eimsbüttel, Altona und Nord griffen die Gerichte ebenfalls seltener ein.

Auch in den Bezirken haben die mit den Familien befassten Dezernate eine größere Sensibilität der Bürger festgestellt - spätestens nach dem Fall "Jessica". "Seit 2005 steigen die Meldungen und Verdachtsfälle an", heißt es im Jugenddezernat Bergedorf. Auch in Wandsbek haben die Behördenmitarbeiter eine erhöhte Wachsamkeit der Bürger registriert. "Die Menschen passen nach den Todesfällen von Kindern besser aufeinander auf", erklärte die Sprecherin des Bezirks. Sie verwies außerdem auf die Bevölkerungsstruktur des einwohnerstärksten Hamburger Bezirks: "Es gibt hier viele Familien und weniger Ältere und Singles als anderswo, deshalb ist der Anstieg der Maßnahmen zum vollständigen oder teilweisen Entzug der elterlichen Sorge in Wandsbek größer."

Die Bezirke Mitte und Harburg verwiesen auf die Bezirksreform von 2008, als im Problemstadtteil Wilhelmsburg die Zuständigkeit wechselte. "Auch deshalb ist in Mitte die Zahl der Sorgerechtsentzüge angestiegen", sagte ein Sprecher dem Abendblatt. In Eimsbüttel, wo die Zahl der Sorgerechtsentzüge um 20 Prozent sank, sei die Zahl der Verdachtsfälle dagegen nicht zurückgegangen, sagte eine Sprecherin. "Dass Kinder aus der Obhut ihrer Eltern genommen werden, ist nicht immer notwendig, manche Verdachtsfälle sind auch unbegründet."