In einer Rede stellt der Musikunternehmer fest: Berlin ist kreativ und schrill, aber die Liebe gehört nach wie vor seiner Heimatstadt. Die ist verlässlich.

Hamburg. Vielleicht kennen Sie das Problem noch aus der Kindheit. Die weit ausgeschnittene Hose von Wrangler war der letzte Schrei, die mussten Sie haben. Da der Schnitt aber modisch war, kostete sie deutlich mehr als andere. Es dauerte Wochen, die eigene Mutter zu überzeugen. Aber endlich, nach quengeln und im Haushalt helfen, hatte man das gute Stück.

Moden sind endlich, und auch der weite Schnitt an den Beinen ist irgendwann nicht mehr in. Wie andere Jungs auch, spielen Sie Fußball und toben rum. Aber egal, ob Sie nach einer kühnen Grätsche auf die Knie fallen oder beim Klettern am Zaun hängen bleiben - das verdammte Stück Denim von Wrangler reißt nicht. Mittlerweile sprechen die Mädchen aus Ihrer Klasse Sie schon auf Ihre Trompetenhosen an. Die Mädchen daten die Jungs zwei Klassenstufen über Ihnen, und deshalb sitzt der Stachel mit der "Trompetenhose" umso tiefer. Irgendwann glauben Sie, Sie müssen schwul oder einsam werden.

Sie merken, ich spreche hier über ein selbst erlebtes Trauma, ich spreche hier über den Fluch der Substanz. Wie froh und dankbar wäre ich gewesen, wenn es sich mit meiner Wrangler verhalten hätte wie mit all dem Krams, den man sich bei H&M kauft. Spätestens nach zwei Dutzend Waschgängen ist da die Ware hin, und man kann sich etwas Neues, Modisches kaufen. Herrlich, aber H&M gab es in meiner Jugend nicht, und zudem wohnte ich damals in Hamburg. Deutschlands Hauptstadt der Substanz.

In München ist man das, was man an Einkünften oder Vermögen vorweisen kann, in Hamburg redet man nicht über Geld - das hat man. In Berlin ist man so gut wie die letzte Idee, die man hatte - in Hamburg redet man über Ideen erst, wenn man weiß, dass man sie auch umsetzen kann. In Hamburg ist die erste gesellschaftliche Frage: "Was machst du so?" Das, was man macht, muss dann nicht riesig und erfolgreich sein, um Respekt zu bekommen. Aber Hand und Fuß muss es haben, solide sollte es sein - Substanz eben ...

Dort, wo die Substanz von zentraler Bedeutung ist, ist Scheitern ein Problem. Das gilt auch im zwischenmenschlichen Bereich und ist wahrscheinlich auch Grundlage der Hamburger Schüchternheit, die oft als Arroganz ausgelegt und missverstanden wird. Machen wir uns nichts vor, ich bin hier aufgewachsen und nach langen Abenden, an denen man die Blickkontakte gezählt hat, statt die Mädchen einfach anzusprechen, fragt man sich: Wie pflanzt sich der Hanseat überhaupt fort? Selbst die uns eigentlich artverwandten Briten verstehen das nicht. Im Spanienurlaub kam nach dem dritten Abend in derselben Diskothek einst Deidre Dean aus Newcastle upon Tyne auf mich zu und fragte "Sweety, why are you just starring at me ..?" Der Urlaub wurde noch sehr schön.

Wir Hamburger schämen uns in Berlin und München für die anderen. Weder finden wir es wirklich akzeptabel mit Rippunterhemd und Adiletten das Haus zu verlassen, noch schätzen wir es, wenn man protzig, zu sehr gebräunt, dazu mit buntem Einstecktuch verziert auftritt. Wir Hamburger fürchten nichts so sehr, wie unangenehm aufzufallen. Auch die Ansprache des jeweils anderen Geschlechts gehört dazu. Man guckt besser weg, bloß um nicht lästig zu sein. Das ist sehr höflich, aber wenig zielführend. Der Hamburger lernt Frauen oder Männer meist dadurch kennen, dass jemand, den er kennt, sie kennt. Oder halt auf der Arbeit oder über die Arbeit. Beschweren tut man sich in Hamburg nur, wenn es gar nicht mehr anders geht.

In Berlin sucht man hingegen durch Konflikt Kontakt. Taxifahrer, die sich über das Fahrziel beschweren, Kioskbesitzer, die über das Wechselgeld maulen, Kellner, denen die Bestellung nicht passt - und das alles nur, um sich nach einer frechen Antwort des Opfers mit diesem verbrüdern zu können? Für den höflichen Hamburger ein absurdes Konzept. Er macht lieber nichts falsch und gibt keinerlei Anlass zur Beschwerde.

So baut er auch seine Stadt. Alles ist schön, alles ist fein aufeinander abgestimmt, zumindest solange man sich auf der richtigen Seite der Alster herumtreibt. Nichts ist gewagt, man fällt nicht aus der Reihe. Auch nicht baulich. In der Konsequenz fehlen Hamburg die Wahrzeichen. Bis auf den Michel und bestenfalls noch die Landungsbrücken hat Hamburg keine Ikonen, vermittelt keine Bilder, sondern ist selbst ein stimmiges Ganzes. Wenn sie an Berlin denken, entsteht hingegen eine Bilderflut, von Brandenburger Tor, Siegessäule, Reichstag, Gedächtniskirche, Potsdamer Platz, die "schwangere Auster", Funkturm, Fernsehturm und, und, und. Wenn man in Hamburg einen Turm zur Übertragung von TV- und Radiosignalen baut, sieht der aus wie das, was er ist: eine große Antenne halt.

Diesen Zwang zur Stimmigkeit im ewigen Gleichklang des roten Klinkers und der maritimen Referenzen könnte die Elbphilharmonie durchbrechen. Ausgerechnet für das neue Haus schöner Künste wagt man endlich den Bruch mit der ewigen Harmonie. Das macht sie so wichtig für Hamburg, das macht sie zum Signal für einen Aufbruch.

Kurz nachdem Giovanni di Lorenzo seinen neuen Job bei der "Zeit" angetreten hatte, besuchte ich ihn in seinem Büro. Giovanni hatte schon in München, Bremen und zuletzt in Berlin als Chefredakteur des "Tagesspiegels" gearbeitet. Ich fragte ihn, wie er sich denn in meiner alten Heimat zurechtfinden würde. "Hamburg ist wie eine wunderhübsche Frau, mit der man abends ausgeht, die aber nichts sagt ...", war seine spontane Antwort. Der Vergleich leuchtete mir ein, und ich stellte mir die Frage, ob ich selbst mit meinem Umzug nach Berlin vor sieben Jahren nicht eine typische Wechseljahrsentscheidung getroffen hatte. Weg von der hübschen, gepflegten Hansestadt, hin zur wilden, etwas zerzausten Hauptstadt, die das Leben versprach, was ich vermeintlich zuvor in Hamburg verpasst hatte.

Hamburg hat meine Kinder großgezogen, sich gepflegt, immer stilvoll gekleidet, ging viermal die Woche ins Fitnessstudio, hat das Jurastudium abgeschlossen und sich nur ganz selten beklagt. Im Sommer fuhren Hamburg und ich nach Sylt, im Winter nach Lech und zwischendurch mal nach Mallorca. Das Leben war schön, aber auch ziemlich ordentlich. Mit Hamburg war selbst schmutziger Sex sauber.

Statt viermal die Woche zum Fitness, geht Berlin viermal die Woche aus. Das sieht man ihr an, zumal die Klamotten, die sie trägt eh ein wenig zu eng und schrill sind. In Hamburg würde man solche Kleidung wohl eher auf St. Pauli tragen, aber in Berlin ist überall Kiez. Berlin ist manchmal so laut, dass ich zusammenschrecke. Und wovon Berlin lebt, ist mir bis heute nicht ganz klar. Irgendwas mit Kunst, glaube ich. Berlin ist das eigentlich auch egal, denn Berlin meint "Alles ist möglich, und nichts ist peinlich ..."

Hamburg war empört und konnte überhaupt nicht verstehen, was ich an diesem Berlin fand, das sich nicht einmal unter den Achseln rasierte. Hamburger Zeitschriften warfen mir tatsächlich vor, dass ich und meine Firma in eine Stadt zogen, die eigentlich pleite sei. Na und, war meine Antwort, ich will ja auch nicht, dass Berlin meine CDs kauft. In Berlin suchte ich stattdessen Kreativität und Erneuerung. Wer als Talentscout in Hamburg tätig ist, wird nicht mutig sein. Jeder verantwortungsvolle Mensch orientiert sich nämlich an den Möglichkeiten. Aber wie soll es möglich sein, Neues durchzusetzen, wenn in den Hamburger Radios immer derselbe Sound, das Beste aus den Achtzigern und Neunzigern und die Hits von heute laufen, wenn in den Klubs der gleiche, gewachsene Hamburg-House-Sound dominiert?

Okay, es gab die Hamburger Schule mit Tocotronic, Tomte und Kettcar. Aber das ist auch schon wieder fast 15 Jahre her, die Bands gibt es noch immer. Solide gebaut, wie sie als Hamburger nun mal sind, ist das fast eine Selbstverständlichkeit, aber ihre Frontmänner leben mittlerweile längst alle in Berlin. Das gilt auch für viele andere Künstler, die die bunte Landschaft im Radio uns in den Klubs schätzen. In Berlin ist nämlich fast alles Zwischenlösung oder Zwischennutzung. Radiostationen gehen ruhig mal zwischendurch pleite, aber vorher haben sie was riskiert. Klubs verschwinden so schnell, wie sie gekommen waren, denn für den Betrieb haben sie nur eine Übergangsgenehmigung in einem Haus, was auf Abbruch oder Umbau wartet.

Wenn man als Berliner in den Urlaub fährt, erwartet einen eine neue Stadt, wenn man zurückkommt. Nicht nur, dass des trotz Leerstands in Berlin einfach weitergebaut wird, als würde die Stadt immer noch die von Helmut Kohl projektierten sechs Millionen Einwohner erreichen wollen und dadurch ständig neue Häuser und Straßen entstehen. Auch das Lieblingsrestaurant, die Bar für lange Nächte und der Klub mit dem besten Programm können verschwunden und dafür viele neue entstanden sein. Die Stadt ist immer in Bewegung, dabei unzuverlässig, aber immer überraschend. Verursacht ist all das durch unsolide respektive falsche Planung. Aber dieser stete Wandel ist Grundlage der Kreativwirtschaft, die schon 16 Prozent der Werktätigen der Stadt ausmacht.

Wenn ich nach sieben Jahren Hamburg zurückkomme, ist alles beim Alten. Der Wirt im Lieblingsrestaurant Morellino erkennt mich und räumt nach sieben Jahren einen Tisch frei. Und die Speisekarte ist fast noch immer die gleiche mit den leckeren Calamarettis. Der Pudel feiert als Underground-Klub am Hafen seinen sein 20-jähriges Bestehen, und das Hallo, wenn man eintritt, ist groß. Nur beim Tempelhof ist man unsicher, ob er nun Gum Club oder gerade schon wieder anders heißt. Man ist daheim, und ich spüre, Hamburg und ich, wir lieben uns trotz Berlin noch immer.

Der Text ist eine Rede von Tim Renner, die er im Rahmen der "WEPP Lounge", eines Treffens von Werbe-, Event-, PR- und Promotionschaffenden im Hotel Grand Elysée Hamburg gehalten hat.