Familien gehen, kleine Läden machen dicht. Der Stadtteil verliert jenen Charme, der ihn von anderen unterschied. Höchste Zeit gegenzusteuern, will man nicht die Bühne den Zerstörern überlassen.

Hamburg. Im Grunde begann alles mit einem Spielplatz. Den nämlich wollte Klausmartin Kretschmer vor acht Jahren in Blankenese errichten, doch den Zuschlag für das attraktive Grundstück neben der Rudolf-Steiner-Schule bekam ein Mitbieter, der dort Wohnungen bauen wollte. "Wie wäre es mit einem Spielplatz für Erwachsene?", fragte ihn daraufhin der damalige Altonaer Bezirksamtschef Uwe Hornauer - und bot Kretschmer im Frühjahr 2001 die Rote Flora an, das besetzte Stadtteilzentrum im Schanzenviertel. Warum eigentlich nicht, dachte sich der Kaufmann. Sein Angebot an die Stadt: 370 000 Mark. Wieso? "Ich wollte maximal eine halbe Million D-Mark investieren, und der höchste Betrag, der sich aus den Zahlen 3 und 7 - den Primfaktoren meiner Glückszahl 21 - herleiten ließ, war nun mal 370 000", sagt Kretschmer und lächelt milde.

Der Spielplatz für Erwachsene ist heute das letzte besetzte Haus in Hamburg. Im Herbst feiern die autonomen Rot-Floristen, die das Gebäude in Beschlag nahmen, als der Investor Friedrich Kurz daraus ein Musical-Theater machen wollte, 20. Jubiläum. Die Flora ist, je nach Standpunkt, Schandfleck oder Touristenattraktion, schäbiges Relikt aus längst vergangenen revolutionären Zeiten oder sichtbares Mahnmal gegen die fortschreitende Kommerzialisierung eines Stadtteils, der - noch - als der bunteste in Hamburg gilt. Und wenn das Schanzenviertel morgen sein jährliches Fest feiert, geht hier am Schulterblatt die Musik ab. Die bange Frage von vielen aber lautet, ob die Schanze mittlerweile nur noch Bühne ist und quasi als Austragungsort herhalten muss für die ritualisierten Aufführungen, mit denen in unerfreulicher Regelmäßigkeit dem Tanz am späten Abend die Militanz folgt. Dargeboten von immer jüngeren Akteuren, die mit dem Viertel nichts am Hut haben und denen ihr steigender Alkoholpegel im Zweifel wichtiger ist als eine inhaltliche Diskussion über steigende Wohnungs- oder Ladenmieten.

Kretschmer war in den vergangenen acht Jahren erst einmal in seinem Gebäude, für das er auch keine Mieteinnahmen verbuchen kann und pro Jahr allein 2000 Euro an Straßenreinigungsgebühren bezahlt. Auf seine Gesprächsangebote gab es nie eine Reaktion, was den 51-Jährigen, der sich als Kultur-Investor versteht, zwar enttäuscht hat, aber nicht von seiner Zusage abbringen konnte, am Status quo der Flora festzuhalten. Weil er an "Gegenorte" glaubt. Orte, "jenseits von Bewertungsmaßstäben", die kein finanzielles Interesse verfolgen, sondern so etwas wie eine "geistige Samenbank" darstellen. Orte aber auch, die von ihren Bewohnern als Chance zum Gestalten genutzt werden. Und genau das vermisst Kretschmer, dem der damalige Innensenator Ronald Schill einst einen zweistelligen Millionenbetrag für den Rückkauf der Roten Flora geboten haben soll. "Wer sich der Diskussion verschließt, muss sich nicht wundern, wenn ohne ihn entschieden wird", sagt Kretschmer, der vermutet, dass viele Aktivisten, die ja mittlerweile auch um die 50 Jahre alt seien, gar nicht mehr im Viertel wohnen. Er sagt, dass er keinen Plan für "das Herz, das wichtigste Grundstück im Viertel" hat. Zwar finden in der Flora nach wie vor Konzerte und Aktionen gegen Nazis statt, treffen sich Menschen regelmäßig zum Kochkollektiv Veganes essen, zum Fahrradflicken, zum Punk Cafe. Kretschmer aber hält das "Haus 73" nebenan mittlerweile für das eigentliche Kulturzentrum der Schanze. "Die haben die Aufgabe der Flora übernommen." Und dort gebe es das "ganze junge, intelligente Potenzial - Musiker, Werber, Fotografen -, das die Floristen nicht eingesammelt haben, obwohl die Leute direkt vor ihrer Tür sitzen".

Im Bedford Café, genau gegenüber der Flora, sitzt Björn Maass. Der Hamburger, vor acht Jahren in die Schanze gezogen, ist Sänger und Texter der Band Der Fall Böse und stellt die Welt gerne auf den Kopf. "Wir warten nicht, bis was passiert." Vor zwei Jahren waren sie auf Tournee in Australien, der Film darüber wird gerade mit einem eigenen Soundtrack vertont. "So was geht nur hier in der Schanze, wo es ein ganz dichtes Netzwerk unter den Kreativen gibt", sagt er. Leben und arbeiten auf Zuruf. Das mache das Viertel nach wie vor einmalig in Hamburg, aber Björn sieht die Gefahr, "dass die Schanze zum Kiez verkommt". Bald nur noch Amüsierviertel ist "und nicht mehr inspirierend, was der Kiez ja schon lange nicht mehr ist". Am Wochenende kämen immer mehr Leute von dort herüber, viele ganz junge darunter, mit Wodkaflaschen im Arm und einem gewissen Aggressionspotentzial im Kopf. Als er neulich in der Susannenstraße aus seinem Auto stieg, haben ihn drei Jugendliche angemacht: "Ey Alter, verpiss dich aus unserem Viertel." Björn vermisst bei den "minderjährigen Flaschenweitwerfern" die Haltung.

Die Flora, die er mittlerweile zwar "für so eine Art Phantom" hält, hatte früher "eine ganz andere Strahlkraft". Mit Schlagworten und nachgeplapperten Parolen kann der 34-Jährige nichts mehr anfangen. Er fordert auch von jungen Menschen eine "produktive Lebenseinstellung" ein, man könne nicht "alles kaputt hauen, ohne gleichzeitig was Neues zu bauen". Manchmal fragt er sich schon, wer die eigentlichen Spießer sind und ob nicht diejenigen, die versuchen, Beziehung, Beruf und Kinder auf die Reihe zu kriegen, die wahren Alltagshelden sind. Björn, der sich als "politischer Beobachter" versteht, dessen Mittel für Veränderung die Musik ist, zahlt für sein 20-qm-Zimmer in einer WG seit Jahren unverändert 260 Euro im Monat. Von Verdrängung ist er bisher verschont geblieben, aber natürlich sieht er, was links und rechts von ihm passiert. "Wenn politische Gestaltung des Stadtteils nur noch unter finanziellen Aspekten stattfindet", sagt er, "ist sie zum Scheitern verurteilt." Trotzdem ist Leben für ihn vor allem auch Wandel. Natürlich sei die jetzt eröffnete McDonald's-Filiale im Sternschanzen-Bahnhof sehr unpopulär bei den Leuten, aber die Frage für jeden Einzelnen muss doch sein, ob man dann dort essen gehe.

Christiane Hollander sagt, sie esse gerne, sei auch keine Spaßbremse, kenne Tim Mälzer nicht persönlich, will sich zu dessen neuem Restaurant in der Lagerstraße eigentlich auch gar nicht äußern, findet aber, dass man die Räume auch sehr gut als Produktionsstätten für Kinder und Jugendliche ohne Hauptschulabschluss hätte nutzen können. Wahrscheinlich gibt es nicht sehr viele, die sich fundierter über das urbane Viertel mit seinen ruhigen Hinterhöfen, seinen grölenden Besuchern, seinen schäbigen Ecken, seinen chicen Boutiquen und seiner "wunderbaren Ganztagsgrundschule in der Ludwigstraße" äußern können als die 46-jährige Anwältin, die seit 25 Jahren auf St. Pauli wohnt, seit 1993 als Mietrechtsexpertin beim Verein "Mieter helfen Mietern" arbeitet, ehrenamtlich beim SC Sternschanze wirbelt und im Sanierungsbeirat tätig ist. Welche Chancen hat die Schanze, die mehr aushalten muss als jeder andere Stadtteil in Hamburg? Touristenströme, Überwachungskameras, steigende Mieten, immer mehr Eigentumswohnungen, immer weniger kleine Läden, immer wieder Krawalle und Auseinandersetzungen. Autonome gegen Polizisten, Anwohner gegen Gastronomen, Einzelhändler gegen große Ketten. Das Problem ist, dass es keine eindeutige Antwort auf die Frage gibt, ab wann ein Quartier seinen Charme verliert. Christiane Hollander sagt, sie hat die Schanze am liebsten "morgens um acht", und auf die Frage, wie viele Mietwohnungen in den letzten zehn Jahren in Eigentumswohnungen umgewandelt worden sind: "Die Zahlen hätten wir auch gerne."

Aber sie weiß, dass "bei Abriss definitiv immer Eigentumswohnungen und nie Sozialwohnungen entstanden sind". Sagt, dass vor zehn Jahren "acht Mark pro Quadratmeter, frisch renoviert, der absolute Spitzenwert gewesen ist", während man heute kaum noch eine Wohnung "unter elf Euro pro Quadratmeter" findet. Die Ladenmieten hätten sich "verdoppelt oder verdreifacht". Dieser Prozess der sogenannten Gentrifizierung, der Verdrängung von langjährigen Anwohnern und Gewerbetreibenden durch zahlungskräftige Neu-Bewohner, führt dazu, dass sich Stadtteile immer mehr angleichen. "Wenn Milchläden, Reinigung, Asia-Shop und Kosmetikladen verschwinden und dafür ausschließlich Boutiquen, Gastronomie und Kioske einziehen, ist das vergleichbar mit den Einkaufspassagen in den Innenstädten. Überall die gleichen Geschäfte, da weiß man gar nicht mehr, in welcher Stadt man sich gerade befindet", sagt Hollander.

Die Vielfalt im Viertel gehe aber auch deshalb flöten, weil viele Familien den Trubel, der sich zunehmend mit Respektlosigkeit paart, nicht mehr ertragen. "Als St. Paulianer ruft man nicht die Polizei", sagt Christiane Hollander, das sei hier "ein ungeschriebenes Gesetz". Neulich aber wusste sich eine alte Schanzenbewohnerin, politisch aktiv, nicht mehr anders zu helfen, als sie von Jugendlichen angepöbelt wurde. "Die war völlig fassungslos", sagt Hollander. "Wenn früher die Musik zu laut war, ist man zum Wirt, kannst du das bitte leiser machen, klar Mädel, komm trink noch einen mit." Heute, so berichten ihr vermehrt die Mieter, werden Klagen einfach ignoriert, pinkeln Szenegänger in Kinderwagen im Hausflur, versperren angetrunkene Touris schon am frühen Abend Hauseingänge, sodass kleine Kinder nicht mehr in ihre Wohnung kommen. Familien ziehen entnervt weg und überlassen das Feld den immer gleichen Haushalten aus gut betuchten Doppelverdienern ohne Kinder.

Mit konkreten Zahlen über die Wohnungsentwicklung kann auch Jürgen Warmke-Rose nicht dienen. Der parteilose Altonaer Bezirksamtsleiter sagt, dass sehr viel Geld in das Sanierungsgebiet geflossen ist. In den Florapark, die grüne Flora mit Fußballplatz und gewaltiger Kletterwand, in den Sternschanzenpark, in Verkehrsberuhigung. Er erinnert daran, "dass die Klos im Viertel vor 20 Jahren noch in den Treppenhäusern waren, das will ja auch keiner mehr", und die Frage sei doch, ob sanierte Stadtteile sich irgendwann selbst tragen, "ohne dass immer das nächste staatliche Programm aufgelegt wird". Es gehe darum, "vorhandene Substanz nicht zu zerstören", aber es kann auch nicht sein, "dass jemand, der dort seit zehn Jahren wohnt, die Diskussionshoheit beansprucht". Der 48-jährige Jurist ist "schuld" daran, dass das Schanzenfest überhaupt stattfindet, weil er seinen Innensenator davon überzeugte, eine "Duldung" auszusprechen. Christoph Ahlhaus (CDU) wollte das Fest nicht genehmigen, weil es, wie überall anders üblich, keinen Veranstalter gibt. Und das seit 2005. Warmke-Rose suchte im Schulterschluss mit der Bezirksversammlung den Kontakt zu einer Anwaltskanzlei, nun seien Rettungswege, Lebensmittelsicherheit und standsichere Bühne gewährleistet. Warmke-Rose spricht von "Deeskalation durch Kommunikation".

Für Joachim Lenders gehören Menschen wie Warmke-Rose eher in die Kategorie "ahnungslose Bezirkspolitiker". Der Hamburger Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft setzt auf "Deeskalation durch Zeigen von Stärke". Mit Unterstützung aus Mecklenburg-Vorpommern, Bremen, der Bundespolizei sowie der gesamten Bereitschaftspolizei werden am Sonnabend knapp 2000 Polizisten im Schanzenviertel im Einsatz sein. Lenders sagt, man könne die Uhr danach stellen, dass es im Anschluss an das Fest Krawalle geben wird, und deshalb ist seine Gleichung ganz einfach: "Wenn wir stark sind, gibt es bei uns weniger Verletzte und meine Leute werden nicht verheizt." Und außerdem würde der Gegner vielleicht ins Grübeln kommen: "Vielleicht lassen wir es heute doch lieber." Ein Gegner im Übrigen, der immer jünger, respektloser und gewaltbereiter geworden sei. Lenders war bei den Mai-Krawallen Augenzeuge, als "ein paar Vermummte fünf kleine Disco-Mädels verfolgt und mit Steinen beworfen haben". Deswegen gibt es für den 47-Jährigen auch keine Alternative zur massiven Polizeipräsenz. "Man kann Stadtteile nicht bestimmten Leuten überlassen. Das würden wir in Billstedt oder Poppenbüttel auch nicht machen."

Und auch auf einem Spielplatz gibt es schließlich feste Regeln.