Kann ich einer Dreijährigen schon moralische Regeln beibringen? Wann lernen Kleinkinder, Gebote aus eigenem Antrieb zu befolgen?

Hamburg. Der Anlass schien banal zu sein. Doch für meine dreijährige Tochter war in diesem Moment, im Frühjahr 2009, die giftgrüne Plastikschippe in der Sandkiste so etwas wie die Meisterschale für den HSV. Der Besitzer, ein gleichaltriger Junge, war schneller und schnappte sich die Schippe.

Es kam, wie es kommen musste: Kurz bevor die Kombattanten aufeinanderprallten, warf sich die Mutter des Kleinen tapfer dazwischen und spielte die pädagogische Karte. "Spielt doch zusammen." Ich muss gestehen, ich bin kein Fan dieser Art von Spielplatz-Diplomatie. Ich fand damals, dies könnte ein guter Zeitpunkt sein für meine Emily, ihre Lektion in Sachen "Respektiere fremdes Eigentum" zu lernen. Von wegen! Aus dem heiteren Nichts wurden wir Zeugen eines imposanten Naturschauspiels. Kneifen, Kratzen, Haareziehen - das volle Programm. Mittendrin krallte meine zuckersüße, eher klein geratene Tochter mit den dunkelbraunen Kulleraugen ihre winzigen Finger in die Ohren des Jungen. Nachdem ich die beiden Streithähne getrennt hatte, musste ich meiner Tochter die Leviten lesen - dabei war, aus ihrer Sicht, sie doch das Opfer!

Das moralische Wissen ("Hauen ist verboten") führt bei Kleinkindern eben nicht zu einem normativ angepassten Verhalten. Zehnjährige hingegen verfügen zumeist über einen schon recht weit entwickelten Begriff von Moral. Wann aber lernen Kleinkinder, Gebote aus eigenem Antrieb zu befolgen, und nicht nur, um Strafen zu vermeiden? Erstaunlich früh, fand Soziologin Gertrud Nunner-Winkler durch Beobachtungen heraus. Kindergartenkindern legte sie eine Bildergeschichte vor: Der kleine Florian hat Süßigkeiten in seiner Manteltasche verstaut, der gleichaltrige Thomas stiehlt sie in einem unbeobachteten Moment. Die vierjährigen Kindergartenkinder sollen die Tat bewerten. "Man stiehlt doch nicht", entrüsten sich 98 Prozent. Und wie fühlt sich Thomas, der Dieb?

Vier von fünf antworten: "Der fühlt sich prima", denn "Süßigkeiten schmecken klasse". Ergebnis: Kinder erwarten, dass derjenige sich gut fühlt, der erfolgreich tut, was er will. Emily ist wie die meisten Kleinkinder Gefangene ihrer Bedürfnisse. 1, 2 - alles meins. Haben wollen. Kriegen müssen. Sich aus Verboten und Regeln ableitende Strafen und Konsequenzen werden erst dann zum Problem, wenn sie tatsächlich durchgesetzt werden. Meine Tochter etwa weiß: Kriegt sie vom leckeren Gemüse mittags keinen Bissen herunter, sind Schokolade und Co. passé. Weil mich meine Tochter für gewöhnlich wie eine Lenkrakete durch die Wohnung verfolgt, entgeht ihr kein Griff an die Süßigkeitenschublade. Ich wiederum darf naschen - ich habe ja brav alles aufgegessen. Dennoch folgt der Tobsuchtsanfall auf dem Fuß. "Papa, warum isst du was Süßes. Ich will auch."

Entscheidenden Einfluss bei der Kalibrierung des moralischen Kompasses der Kleinen haben die Bezugspersonen, meist die Eltern. Schon ein sieben Monate alter Säugling registriert kleinste mimische Regungen. Gerade Kleinkinder saugen das Verhalten ihrer Eltern auf. Beinhart trifft einen diese Erkenntnis, wenn der Sprössling das Schimpfwort "A...loch" wiederholt, mit dem Papi einen Vorfahrtsmissachter heruntergeputzt hat. Kinder, deren Eltern Müll auf dem Boden liegen lassen, werden kaum zu Umweltengeln. Dem kindlichen Sonar entgeht kaum etwas. Ist die Beziehung zwischen Eltern und Kindern fundamental gestört, hapert es mit der Aneignung von moralischen Regeln. Gewalt- oder Missbrauchsopfer werden Zeit ihres Lebens von traumatischen Erfahrungen verfolgt und werden nicht selten zu Schlägern oder vergehen sich an Kindern.

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Vor Gericht gelten Kinder bis zum 14. Lebensjahr grundsätzlich als schuldunfähig. Ansonsten ließe sich eine ganz ansehnliche Liste von Straftaten zusammenstellen. Von Sachbeschädigung (§ 303 StgB), wenn meine Tochter mit schlammverkrusteten Schuhen auf HVV-Sitzen herumturnt bis zum Mundraub (§ 248 a) - wie sie welchen Stuhl vor dem Süßigkeitenregal platzieren muss, hat sie schon gut raus. Und wenn ich aus pädagogischen Gründen mal das Sandmännchen als Abendritual streiche, weil sie ihr Spielzeug nicht wegräumt, schreckt sie auch vor versuchter Nötigung nicht zurück (§ 240). Den dicken Tränen zum Trotz bleibe ich konsequent. Andersherum ist meine Tochter schon das Opfer falscher Verdächtigung (§ 164) geworden. Als ich die Wohnung einmal nach einem wichtigen Dokument durchsuchte, hatte ich gleich Emily in Verdacht, das Papier für künstlerische Fingerübungen zweckentfremdet zu haben. Wenig später entdeckte ich es unter einem Stapel anderer Dokumente - ich hatte es verlegt. Natürlich habe ich mich entschuldigt.

Was das mit Gerechtigkeit zu tun hat? Eigentlich alles. Eltern, die sich über Regeln hinwegsetzen, die sie selbst aufgestellt haben, oder sie einseitig zu ihren Gunsten auslegen, dürfen das Fehlverhalten ihrer Kinder nicht bekritteln. Ich erkläre Emily, so gut das bei einer Dreijährigen geht, warum ich bestimmte Dinge verbiete und sie gegebenenfalls bestrafe. Mit aufrichtiger Reue oder Unrechtsbewusstsein rechne ich nicht. Dafür ist sie noch viel zu klein.