Auch die Geschichte der Märchenerzählung kennt ihre Verschwörungstheorie. Wo die etablierte Sichtweise die Brüder Grimm als noble Sammler ehrwürdigen Volksguts begreift, hängen die „Truther“ der Theorie an, dass das, was wir dank der Grimmschen Editionen als Märchen kennen, nur bedingt etwas mit dem Urstoff zu tun hat. Die Grimms hätten die „wahren“ Erzählungen verharmlost und dem Geist ihrer Zeit angepasst, heißt es da. Dass an diesen Anwürfen etwas dran ist, das lässt sich nun prächtigst in Matteo Garrones „Märchen der Märchen“ nachvollziehen.

Garrones Film basiert auf Motiven aus dem „Pentamerone“ von Giambattista Basile, Europas erstem großen Märchenerzähler Anfang des 17. Jahrhunderts, den die Grimms als Quelle benutzt haben. Tatsächlich kommt vieles darin bekannt vor: die Prinzessin, die an einen Oger verheiratet wird; die Königin, die zu bösem Zauber greift, um schwanger zu werden; der König, der eine Frauenstimme hört und dann obsessiv den Körper dazu verführen muss. Nur dass hier keine der Geschichten mit einem „märchenhaften“ Schluss endet. Stattdessen betont der Film genau die Eigenschaften dieser Erzählungen, die wir als eher „unmärchenhaft“ empfinden: blutiger Horror wie der einer bei lebendigem Leib gehäuteten Frau, und grotesker Slapstick wie der eines zum Regieren wenig begabten Herrschers.

Zwischen drei verschiedenen, aber offenbar benachbarten Königreichen wechselt der Erzählfluss hin und her. In einem davon regieren zu Beginn John C. Reilly und Salma Hayek. Um sich ihren Kinderwunsch zu erfüllen, muss Reilly als König zuerst sein Leben beim Erschlagen eines Seemonsters lassen, sodass Königin Hayek sich über das Monsterherz hermachen kann. Im nächsten Königreich herrscht Vincent Cassel als erotomaner Lebemann. Nur dumm, dass die zauberhafte Mädchenstimme, in die er sich eines Tages verliert, in Wahrheit einer alten Frau gehört. Selbige wohnt als alte Jungfer bei ihrer Schwester und zusammen denken sie sich allerlei Intrigen aus, wie sie das Begehren des Königs zufriedenstellen können, ohne ihre Haut zeigen zu müssen. Im dritten Reich schließlich sitzt ein ungelenker Toby Jones auf dem Thron. Eines Tages fällt er einer Obsession anheim: Er hält sich einen Floh als Haustier, den er so gut ernährt, dass er zu gigantischen Ausmaßen heranwächst.

„Das Märchen der Märchen“ ist ein für europäische Verhältnisse aufwändig ausgestatteter Kostümfilm, der sich dennoch von den kommerzielleren Produktionen wie „Snow White And The Huntsman“ als bescheiden absetzt. Man merkt durchweg, dass es Garrone nicht auf die Perfektion der Spezialeffekte ankommt. Das Künstliche und Kulissenhafte scheint er eher noch zu betonen. Denn von dieser Brüchigkeit geht ein besonderer Reiz aus. Es ist ein bisschen wie mit Konditoreiwaren: die allzu perfekten enttäuschen immer, während die mit der krummen Sahneborte oft geschmacklich überlegen sind.

„Das Märchen der Märchen“ I/F/GB 2015, 133 Minuten, ab 12 Jahren, Regie: Matteo Garrone,
Darsteller: Salma Hayek, Vincent Cassel, John C. Reilly, täglich im Passage, Studio, UCI Mundsburg, Zeise