Dr. Alice Howland (Julianne Moore), eine gerade mal 50 Jahre alte Linguistin, spaziert über den sommergrünen Campus ihrer Universität in Los Angeles. Plötzlich hält sie inne. Während Howland bemerkt, dass etwas mit ihr nicht stimmt, scheint ihr auch die Kamera nicht mehr richtig folgen zu können, jedenfalls nicht so, wie man es von einer Filmkamera in einem konventionell anmutenden Drama gewohnt ist. Ihr Auge packt das Objekt, schleudert es herum wie auf einem Karussell. Die Beziehung zur Außenwelt verschwimmt, bricht ab. Dann ist sie plötzlich wieder da: Howland schwankt, wie auf unsicherem Boden, auch dem Zuschauer ist schwindelig. Die Kamera war für einen Moment nicht mehr Beobachter, sondern Teil der Szene, als wäre sie in den Kopf der Protagonistin gesprungen, um zu zeigen, was in Dr. Howland passiert

Mit solchen, mal mehr, meistens weniger drastischen, filmischen Mitteln illustriert „Still Alice“, wie die Diagnose Alzheimer in das Leben einer Frau einbricht, die noch viel vom Leben erwartet hat, nur nicht den rapiden Verfall des Gedächtnissen, der Sprache, den Abschied vom gewohnten Leben, den Tod.

Es ist noch nicht lange her, dass Alice ihre drei Kinder, die spießige Anna (Kate Bosworth), Tom (Hunter Parrish) und die glücklose Schauspielerin Lydia (Kristen Stewart), ins Erwachsenendasein verabschiedete. Leidenschaftlich widmete sie sich seither den Themen ihres Fachgebietes, der frühkindlichen Sprachentwicklung etwa. Die Ehe von Alice und John (Alec Baldwin) scheint bilderbuchhaft. Ihre ersten, kleinen, aber sich häufenden Gedächtnislücken behält Alice erst mal für sich. Doch nach ihrem Anfall auf dem Campus ist sie so beunruhigt, dass sie zum Arzt geht.

Was sagt man dem Mann, den Kollegen, seinen Kindern? Wie bereitet man sich darauf vor, dass man in absehbarer Zeit selbst für das Essen und den Toilettengang auf Hilfe angewiesen sein wird? All diese Fragen hat die US-Neurologin Lisa Genova in ihrem Debütroman „Still Alice“, der in Deutschland unter dem Titel „Mein Leben ohne Gestern“ erschien, thematisiert..

Fürs Kino adaptiert wurde er vom Filmemacherpaar Richard Glatzer und Wash Westmoreland, die ein persönliches Schicksal mit dem Thema von „Still Alice“ verbindet: Vor einigen Jahren war bei Glatzer die unheilbare Nervenkrankheit ALS diagnostiziert worden. Westmoreland habe ihn gefragt: Was willst du machen? Willst du reisen? Willst du die Welt sehen? Die Antwort hieß: Ich will Filme machen!

Daraus wurde „Still Alice“, bei dessen Dreharbeiten Glatzer bereits motorisch so eingeschränkt war, dass er nur noch mit den Fingern Anweisungen diktieren konnte. Julianne Moore, die für ihre gewohnt souveräne Darstellung ihren ersten, überfälligen Oscar bekam, erzählte Glatzers Geschichte ohne jedes Sentiment in ihrer Dankesrede. Und es ist auch die große Stärke von „Still Alice“, dass er kaum in Gefühligkeit abdriftet, sondern seine Protagonistin in ihren Stärken und Schwächen ernst nimmt.

Etwas fragwürdig erscheint au, warum es immer wieder Geistesmenschen sind, deren Demenzerkrankungen besonderes Interesse in der Öffentlichkeit zu wecken scheinen. Diese dramatische Lust am vorgeblich besonders tragischen Dahinschwinden eines „großen Geistes“ hat etwas leicht Perverse, zeugt von unangenehmem Elitarismus.

Sei’s drum. „Still Alice“ vorzuwerfen, dass er kein anderer Film geworden ist, als er sein wollte, hieße, seine Qualitäten zu missachten. So eindrucksvoll wie hier von der Suche nach Selbstvergewisserung, von einer Familienbande in der Zerreißprobe und von dem Kampf zwischen Hoffnung auf Besserung und der Fügung ins Unausweichliche ist im Kino lange nicht mehr erzählt worden.

„Still Alice – Mein Leben ohne Gestern“ USA 2014, 101 Min, o. A., R: Richard Glatzer und Wash Westmoreland, D: Julianne Moore, Alec Baldwin, Kristen Stewart, täglich im Abaton (OmU), Holi, Koralle, Passage, Savoy (OF); www.stillalice.de