Boris Charmatz zählt unter den französischen Choreografen zu den radikalen Vordenkern. Für Überraschungen ist er dabei immer gut. Selbst, wer seine Arbeiten der vergangenen Jahre verfolgt hat, staunte nicht schlecht bei der vergangenen Ruhrtriennale in Bochum anlässlich der Uraufführung des neuen Charmatz-Werkes „Manger“, das vom 30. Januar bis 1. Februar auf Kampnagel spielt.

Da waren 14 Performer auf einer leeren Bühne zu sehen, wie sie erst ganz langsam, dann zunehmend heftiger hauchdünnes, DIN-A-4-großes Esspapier mampfen. Hier wird ganz vorsichtig geknabbert und gerissen, dort in sich hineingestopft, bis alles rückwärts hervorquillt. Alle denkbaren Gefühle, die das Verinnerlichen der Substanzen mit sich bringt, vom Hunger, über Mager- bis Fresssucht wird dabei elegant in einen Kontakt mit dem Boden und dem Raum, in Bewegung übersetzt.

Die wie immer hervorragenden Performer, die Charmatz dabei versammelt, bilden ein glanzvolles Ensemble, das eigentlich aus Solotänzern besteht. Denn es kommt noch dicker. Sie müssen hier nicht nur tanzen und gleichzeitig essen, sondern auch noch – singen. Das geht in einer großen Ruhe und scheinbaren Beiläufigkeit vor sich, die alltäglich scheint, in Wirklichkeit aber höchst kunstvoll und formal exakt daherkommt. Sie winden und wälzen sich am Boden, vibrieren, lauschen in ihre Körper hinein, bevor sie einander gegenseitig besteigen und beknabbern. Das kollektive, asynchrone große Fressen hat auch etwas Meditatives, irgendwie Beruhigendes.

Die aufgenommene Nahrung wird in Klänge umgesetzt. Mal ist es ein englischer Text über King Kong. Mal eine Suada über einen Menschen, der ganz aus „merde“ – zu deutsch Scheiße – besteht. Boris Charmatz, Lehrersohn, der Vater ein der Shoa entkommener Jude, die Mutter Résistance-Kämpferin, ist von deutschen Kulturheroen wie Rainer Werner Fassbinder und Pina Bausch geprägt. Zunächst absolvierte er noch ganz klassisch die Ballettschule der Pariser Oper, sog aber schnell Inspirationen auf aus der bildenden Kunst und der Improvisation.

Eine Tanzperformance von Charmatz, Chef des von ihm gegründeten Musée de la dance in Rennes, ist immer auch ein Nachdenken über das, was Tanz außer einer synchronen Bewegung noch sein kann. Ob er 2011 mit „enfant“ eine Studie zur Bewegungslosigkeit und dem mit Tabus belegten Verhältnis von Erwachsenen und Kindern vorführte oder ob er in „Levée des conflits“ 24 Performer nacheinander eine Bewegung beginnen, um weitere Phrasen ergänzen und weiterführen lässt. Die jeweils letzte von 25 spart er aus. Das Ganze entwickelt mit verzerrten Soundschnipseln eine immense Dynamik und einen mitreißenden Sog.

„Manger“ geht in diesem Zusammenhang noch einen Schritt weiter. Es ist ein wenig spröder, spricht eher den Geist als die Sinne an. Aber es ist faszinierend, diesem Erneuerer des Tanzes beim Denken zuzuschauen. Und getanzt wird außerdem auch noch.

Boris Charmatz: „Manger“ 20.00 (Einführung 18.00), Sa/So 31.1./1.2., jew. 20.00 (Einführung jew. 19.30), Kampnagel, Jarrestr. 20-24, Karten zu 12,- bis 32,- unter T. 27 09 49 49