Gabrielle ist verliebt. Ihre Umgebung ist gerührt. Es ist, als ob Gabrielle ein kleines Mädchen wäre. Dabei ist die junge Frau 22. Ihren Freund, Martin, hat sie im Chor kennengelernt. Beide sind mit einer Behinderung, dem Williams-Beuren-Syndrom, auf die Welt gekommen. Beide Figuren werden auch von Schauspielern mit WBS verkörpert. Was die Kennzeichen dieses Syndroms sind, lässt der Film bezeichnenderweise recht unbestimmt: In „Gabrielle“ stehen die Menschen im Mittelpunkt, nicht ihre wie auch immer gearteten Symptome.

So lenkt die kanadische Regisseurin Louise Archambault gleich zu Beginn den Blick des Zuschauers auf das Atmosphärische: In der Chorprobe zeigt sich der Enthusiasmus der Sänger, die zum großen Teil offenbar nach dem Modell des betreuten Wohnens zusammenleben; weitere Szenen in einem Karaoke-Club und anderswo heben die Lebensfreude dieser Menschen hervor. Eine Freude, von der die sehr liberalen Betreuer, die sie umgeben, wie angesteckt scheinen.

Dann erhascht eines Tages Martins Mutter einen Blick auf das junge Liebespaar beim Küssen. Und sie ist nicht gerührt, sondern besorgt. Die Betreuer wehren ihr Stirnrunzeln zunächst ab. Doch als Gabrielle und Martin bei „mehr“ erwischt werden, wird die Aufregung größer. Martins Mutter meint, ihren Sohn schützen zu müssen. Gabrielles Mutter und Schwester sehen es gelassener, haben aber auch Bedenken. Gabrielle jedoch beginnt zu kämpfen: um mehr Selbstständigkeit, um ein mögliches gemeinsames Glück mit Martin.

Dabei gibt der Film keine vorgefertigten Antworten: Der Zuschauer sieht sich mit eigenen Vorurteilen zum Thema Autonomie, Sex und Behinderung konfrontiert, bis hin zur Frage: Was, wenn Martin und Gabrielle selbst Eltern werden wollen? In der Konzentration auf seine Hauptdarstellerin aber legt der Film auf liebevolle Weise nahe, was bei allen „Lösungen“ nie aus dem Blick geraten sollte: die Person, um die es geht.

Gabrielle Kanada 2013, 104 Minuten, ab 6 Jahren, Regie: Louise Archambault, Darsteller: Gabrielle Marion-Rivard, Mélissa Désormeaux-Poulin, Alexandre Landry, täglich im Abaton