Von fleißigen Sandfressern und gierigen Muschelverschluckern: Wer so alles auf und unter dem Meeresboden der Nordsee lebt, beschreibt Angelika Hillmer.

Hamburg. Der Wattwurm muss aufpassen: Bewegt er sein Hinterteil nach oben, an die Oberfläche des Meeresbodens, packt schnell ein Vogelschnabel zu und versucht ihn aus dem Schlick zu ziehen. Das passiert, weil dort, wo der Wattwurm lebt, der Meeresboden zweimal am Tag für viele Stunden frei liegt. Bei Ebbe ist das Wasser abgeflossen und kommt erst mit der nächsten Flut zurück. In dieser Zeit gehen die Küstenvögel im Watt auf Nahrungssuche. Und die Menschen wandern über den frei liegenden Meeresboden, um vielleicht eine Insel zu erreichen oder sich einfach nur über die Natur zu freuen.

Hat der Wurm im Wattboden also Pech, schnappt ein Vogelschnabel zu. Das bringt den Wattwurm aber nicht gleich um, denn sein Körper ist bestens auf die Attacke vorbereitet: Sein hinteres Ende reißt einfach ab, und ein neues Hinterteil wächst heran. So kann der Wurm weiter seiner Arbeit nachgehen: Sand fressen. Er ernährt sich von den feinen Pflanzenteilchen, die er mit dem Sand aufnimmt. Am Ende scheidet er den "gereinigten" Sand wieder aus. Seine Kothäufchen sind überall auf der frei liegenden Wattoberfläche zu sehen. Bis zu 50 Würmer leben unter jedem Quadratmeter Watt, zusammen bewegen sie 400 Kilogramm Sand im Jahr.

Der Wattwurm ist natürlich nicht allein: Im Meeresboden stecken auch Muscheln und andere Würmer. Auf ihm leben Schnecken und Krebschen. Im Grunde also ein großes kaltes Büfett für Millionen von Watvögeln (mit einem T, denn sie waten durchs Watt). Ihre Schnäbel verraten, was sie am liebsten fressen. Der Sandregenpfeifer hat bloß einen kurzen Schnabel, mit dem er Würmer, Schnecken und kleine Krebse vom Boden aufsammeln kann.

Der schwarz-weiße Austernfischer kann mit seinem stabilen, roten Schnabel sogar Muscheln knacken und dazu einige Zentimeter tief im Boden herumstochern. Die Eiderente mag ebenfalls Muscheln, hat aber eine ganz andere Taktik, um an die Meeresfrüchte heranzukommen: Sie überlässt diese Aufgabe ihrem Magen und verschluckt ihre Lieblingsnahrung, Mies- und Herzmuscheln, gleich im Ganzen. Ihr kräftiger Kaumagen zerreibt die Schalen, um so an das nahrhafte Innere zu kommen. Die Schale spuckt die Eiderente in Form eines sogenannten Speiballens wieder aus - ganz so, wie es im Wald die Eulen mit Mäuseknochen und -fellresten tun.

Auch wenn der Wattenmeerküste zweimal am Tag ganz viel Wasser fehlt, ist sie trotzdem die Kinderstube vieler Fische, zum Beispiel der Schollen. Die jungen Mini-Plattfische leben am Boden. Bei Ebbe sammeln sie sich in Pfützen der trockengefallenen Flächen. Anders die Nordseegarnele, die im gekochten Zustand bekannter ist - auf Krabbenbrötchen. Sie zieht sich in die Priele zurück, in die Lebensadern des Watts.

Ähnlich wie Adern im Körper durchziehen die Priele den Meeresgrund. In ihnen strömt das Wasser bei Flut ein und fließt bei Ebbe ab. Da in den Prielen immer etwas Wasser steht, versammeln sich hier bei Niedrigwasser viele Tiere. Deshalb lohnt es sich besonders, in dieser Zeit den Kescher durch das Wasser der Priele zu ziehen. Auch die unscheinbaren Garnelen gehen dann ins Netz. Unter den vielen Tieren in den Prielen sind auch Fische, die gern Garnelen und kleine Schollen fressen. Deshalb warten die Schollen die wasserarme Zeit nicht in den Prielen ab, sondern bleiben lieber in den Pfützen und buddeln sich dort im Boden ein.

Mit jedem ein- und ausströmenden Wasser wird die Wattlandschaft ein bisschen verändert. An einigen Stellen wird Sand mit in die tiefere Nordsee gerissen, an anderen Stellen wird er angelagert. Dann sinkt der mit dem Wasser transportierte Sand allmählich auf den Grund oder bleibt am Meeressaum liegen, dort, wo die Wellen auslaufen.

Diese Sandbewegungen gibt es jeden Tag an vielen Stellen. Insgesamt werden dadurch riesige Mengen Material an der Küste umgelagert. Der Insel Sylt tut das gar nicht gut. Das Meer nagt an den Klippen und Stränden, vor allem im Winter. Dann häufen sich Sturmfluten, bei denen besonders kräftige Wellen auf die Küste prallen.

Sylt würde auf der stürmischen Seeseite jedes Jahrzehnt zwischen fünf und 15 Meter Land verlieren, wenn nicht jedes Jahr neuer Sand vor die Insel gespült würde. Rund eine Million Kubikmeter sind es - so viel wie der Inhalt von 500.000 durchschnittlichen Sandkästen. Wo der ganze Sylter Sand bleibt? Ein Teil landet an der Nachbarinsel Amrum: Der 15 Kilometer lange, Kniepsand genannte Inselstrand wächst jedes Jahr ein bisschen weiter.