Manchmal schlägt das Leben unerbittlich zu und behält die Menschen für lange Zeit oder sogar für immer im Würgegriff. Dass irgendetwas schiefgelaufen sein muss bei Lee (Casey Affleck), der Hauptfigur in Kenneth Lonergans stillem Drama „Manchester By The Sea“, ist schnell zu erahnen. Emotionslos und wie innerlich eingefroren reinigt Lee als Hausmeister die Sanitäranlagen eines Häuserblocks in Boston. Seine Abende verbringt er in einem Kellerapartment mit Fensterschlitz an der Decke. Der Bezug zum Leben scheint abgeschnitten.

Dann geschieht etwas. Sein Bruder Joe (Kyle Chandler) stirbt nach langer Herzkrankheit. Nicht überraschend, aber doch zu plötzlich. Der scheinbar ungerührte Lee versucht die Dinge zu regeln. Lee muss nach dem Willen des Bruders auf einmal Verantwortung für Joes pupertierenden Sohn Patrick (Lucas Hedges) übernehmen. Ihn zu Bandproben fahren und sein Leben mit zwei Freundinnen organisieren. Und an der Stelle weicht die Fassade, die so gut zu der unwirtlichen Küstenstadt in Massachusetts, im Nordosten der USA, passt, ein wenig auf.

Lonergan entwickelt sein Drama geschickt in immer neuen Rückblenden, die das Geschehen erhellen. Joe war offenbar ein richtig netter Typ, seine Ehefrau, alkoholsüchtig und psychisch angeschlagen, ist schon lange weg. Joe und Patrick richten sich in einem Haushalt ein. Häufig dabei: Onkel und Bruder Lee. Eine Männeridylle. Man geht fischen. Allerdings ist es eine raue Gegend, in der die Männer Biertrinker sind und die Frauen ihre Haare schlecht färben. Man hilft sich gegenseitig. Und man prügelt sich auch schon mal.

Die Rückblenden zeigen auch noch den anderen, den früheren Lee, der mit seiner Frau Randy, gespielt von der in ihren wenigen Szenen überaus präsenten Michelle Williams, und drei kleinen Kindern ein bescheidenes Familienglück lebte. Das monströse Ereignis, das diese Existenz beendete, offenbart der Film ohne Vorbereitung. Lonergan hat in Verlust und Trauer sein Thema gefunden. Hier agiert er hart an der Grenze des Erträglichen. Affleck zeigt als ein von Schuldgefühlen eingeholter Mann eine unsentimentale, oscarreife Leistung. Michelle Williams überzeugt als Frau, die zwar keinen Frieden findet, aber immerhin ein Weiterleben mit Sinn. In der Annäherung von Lee und Patrick geraten dem Film warmherzige, sogar komische Momente. Jenseits des Kerndramas bleiben die Figuren ein wenig eindimensional. „Manchester By The Sea“ ist eine berührend realistische Milieustudie über Menschen an einem Ort der Extreme.

„Manchester By The Sea“ USA 2016, 138 Minuten, ab 12 Jahren, Regie: Kenneth Lonergan, Darsteller: Casey Affleck, Lucas Hedges, M. Williams, täglich im Abaton (OmU), Holi, Koralle, Savoy (OF), Studio (OmU)