Der Leistungssport in der DDR kam ohne Spitzel nicht aus. Am Beispiel Dynamo Dresden dokumentiert jetzt Buchautor Ingolf Pleil für das Abendblatt die Praktiken der Stasi.

Von INGOLF PLEIL

Dieser Tag sollte für drei unbescholtene Menschen hinter Gittern enden. Als sie am Morgen des 24. Januar 1981 im Flughafenhotel Berlin-Schönefeld aufwachen, wollen sie eigentlich mit der Fußball-Nationalmannschaft der DDR nach Südamerika fliegen. Drei Stars des Teams, Peter Kotte, Gerd Weber und Matthias Müller vom Spitzenverein Dynamo Dresden, kommen dort nie an. Funktionäre holen das Trio ab, noch bevor ihr Flugzeug abhebt. Die Hintergründe erhellen sich erst viele Jahre später, als es die DDR schon nicht mehr gibt.

Das Unheil nimmt vier Tage vor dem geplanten Argentinien-Trip seinen Lauf. An diesem Tag sitzen in der Baltic-Bar des Dresdner Hotels Newa zwei Männer zusammen. Die beiden Freunde sind Fußballfans, kennen Spieler von Dynamo teilweise persönlich. Michael J. ist Koch, Wolfgang H. Technologe in einem Stahlwerk. Wie der Alkohol plätschert auch das Gespräch munter dahin. H. kann nicht wissen, dass er mit der Stasi am Tisch sitzt, sein Freund Michael sich auch "Klaus Ihle" nennt. Er ist Inoffizieller Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Am nächsten Tag weiß Erich Mielkes "Firma" Bescheid. "Weber, Kotte und Müller bleiben bei einem der nächsten Spiele in der BRD", notiert "Ihles" Führungsoffizier. Kurz vor dem Abflug werden die Spieler "herausgelöst", wie es im Stasi-Jargon heißt. Für die Schwarz-Gelben, eine Mannschaft der Volkspolizei, spielen die drei nie wieder.

Nach "Ihles" Kneipengeflüster war die Stasi sofort hellwach geworden. An der deutsch-deutschen Grenze bei Lobenstein waren in der Nacht zum 14. April drei Männer geflüchtet. Eine schwere Straftat im SED-Staat. Als die Stasi erfährt, zu wem die Republikflüchtlinge Kontakte in der DDR unterhielten, stößt sie auch auf Michael J.. Ein halbes Jahr später wirbt ihn ein MfS-Offizier als IM. Sein Auftrag: Das "Nachziehen von DDR-Bürgern in die BRD" verhindern.

Ende Oktober 1980 bekommt J. einen heißen Brief. In dem schildern die erfolgreichen Flüchtlinge J. ihr Zusammentreffen mit Spielern von Dynamo Dresden in einem Hotel in Enschede am Rande eines UEFA-Cup-Spiels. Weber, Kotte und Müller, so der Tenor der Zeilen, sollen abgeworben werden. Sie könnten angeblich beim 1. FC Köln spielen. Zur Flucht kommt es nicht. Die wird für einen späteren Zeitpunkt ins Auge gefasst. Doch "Klaus Ihle" verrät den Plan.

Die Stasi greift sofort zu. Nach stundenlangen Verhören - über mehrere Tage hinweg - werden Müller und Kotte aus dem Arrest entlassen. Ihre Absichten werden nicht so hoch bewertet wie die von Gerd Weber. Der bleibt in Untersuchungshaft und wird im Mai 1981 vom Bezirksgericht Dresden in nichtöffentlicher Verhandlung wegen "versuchter Republikflucht" zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Seine Dresdner Fluchthelfer - ein Technologe, ein Bauingenieur und eine Serviererin - bekommen noch härtere Urteile. Spitzel Michael J. erhält eine Geldprämie.

Rettungsversuche für die drei Spieler sind erfolglos. "Genosse Prautzsch, da brauchen Sie nicht zu diskutieren, die Spieler sind gesperrt", befiehlt Dresdens Stasi-Chef Horst Böhm dem Oberligatrainer der Dynamo-Kicker am Telefon. Gerhard Prautzsch weiß daraufhin: In dieser Frage gibt es kein Pardon. Von all dem wissen die Auswahlspieler in Südamerika nichts. Erst ein Bericht der "Welt" trägt Informationen über die Mauer hinweg in den Westen. In einer Zeitung in Buenos Aires können die DDR-Sportler lesen, dass ihre drei Mitspieler verhaftet wurden.

Auch in Dresden und in der Öffentlichkeit herrscht zunächst völlige Ungewissheit. 14 Tage nach der Verhaftung gibt es spärliche Informationen: Gerd Weber wurde aus dem DDR-Sportverband ausgeschlossen, Peter Kotte und Matthias Müller zunächst für die Oberliga, die höchste Spielklasse der DDR, gesperrt. Müller darf zwar sein Studium fortsetzen, er soll sich "bewähren", die sportlichen Karrieren der drei sind allerdings zerstört.

Der damalige SED-Bezirkschef in Dresden, Hans Modrow, ist heute noch der Ansicht, dass "die Maßnahmen angesichts ganz anderer Konsequenzen in ähnlichen Zusammenhängen der Abwerbung von DDR-Bürgern insgesamt wohl zurückhaltend geprägt" gewesen sind. Es habe sich schließlich um Angehörige eines bewaffneten Organs mit Dienstgraden gehandelt, so erklärt Modrow, inzwischen Ehrenvorsitzender der PDS und Mitglied des Europäischen Parlaments.

Gerd Weber muss später schmerzlich klar geworden sein, dass er sich bei seinem Fluchtversuch blauäugig angestellt hat. Umfangreiche Aktivitäten zur Vorbereitung der Flucht sind es, die das MfS auf Webers Spur bringen. Dabei hätte er genau wissen können, woran Mielkes Emissäre besonderes Interesse haben. Denn Weber ist zum Zeitpunkt seines Fluchtversuches selbst seit Jahren Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi. Er ist nicht der Einzige. Zwischen 1978 und 1989 sind von 72 Dynamo-Spielern 18 mindestens zeitweise als Inoffizielle Stasi-Mitarbeiter registriert. Mit unter den Geheimen des MfS: Ulf Kirsten, der heute für Bayer Leverkusen kickt, und Eduard Geyer, gegenwärtig Trainer beim Bundesligisten Energie Cottbus.

Nicht nur auf dem Rasen will die Stasi alles unter Kontrolle haben, sondern auch auf den Zuschauerrängen. Für jedes Spiel gibt es spezielle Einsatzpläne. Kommen westliche Mannschaften ins Dynamo-Stadion, sind sie besonders ausgeklügelt. 1974 spielen die Dresdner im UEFA-Cup gegen den Hamburger SV. An der Alster verlieren sie 4:1, im Rückspiel reicht es immerhin zu einem 2:2. Nahezu auf jeden Hamburger Fan kommt in Dresden ein Stasi-Mann. 1936 Einsatzkräfte bietet allein das MfS im 40 000 Zuschauer fassenden Stadion auf, dazu kommen Hunderte Volkspolizisten. Mielke weist für das HSV-Spiel die Operation "Vorstoß III" an: "Provokationen und Störungen des Gegners" sollen verhindert werden.

Der Einfluss der Stasi auf den Sport beginnt bereits im Kindesalter. Sobald hoffnungsvoller Sportlernachwuchs an die Kinder- und Jugendsportschulen, den Kaderschmieden für Tempo-, Tore- und Titeljagd, strebt, wird die Familie auf Linientreue gefilzt. Ein Verwandter im Westen kann den Kindertraum jäh platzen lassen. Kommen solche Verbindungen erst später zu Tage, droht das Karriereende.

Immer wieder geraten Spieler durch IM-Berichte aus dem Umfeld oder der Mannschaft ins Visier von Stasi-Aktivitäten. Als ein Spitzel in Stuttgart 1979 Funktionäre des VfB und Bundestrainer Jupp Derwall belauscht, wird es für den Dynamo-Fußballer Hans-Jürgen Dörner eng. Der soll angeblich abgeworben werden, hat der IM aufgeschnappt. Die Stasi-Maschinerie rattert los, Fachleute dringen heimlich in Dörners Wohnung ein und installieren Abhöranlagen. Der Sicherheitsdienst findet aber nichts, Dörner, der Beckenbauer des Ostens, kann weiterspielen.

Von 1983 bis 1986 ist Klaus Sammer Trainer von Dynamo Dresden. Weil der Vater des heutigen Dortmunder Trainers Matthias angeblich die Schiedsrichter und Mielkes Lieblingsmannschaft Berliner Fußball-Club (BFC) heftig beschimpft, will die Stasi die Trainerbank verwanzen. Das scheitert an den technischen Möglichkeiten. Letztlich wird Sammer gefeuert, seine sportliche und politische Arbeit sei mangelhaft.

Sammers Nachfolger ist Eduard Geyer. Seit 15 Jahren führt ihn die Stasi als IM. Einen feucht-fröhlichen Ausflug ins Amsterdamer Nachtleben nach einem Cup-Spiel 1971 hatte die Stasi als Anlass für die Anwerbung genutzt. Auf einem karierten DIN-A4-Bogen hatte er am 29. Oktober 1971 seine "Verpflichtungserklärung" unterschrieben. Handschriftlich notierte er darin: "Ich sehe in dieser Zusammenarbeit eine Möglichkeit, mein fehlerhaftes Verhalten wieder gutzumachen." Geyers Vergehen: Damals noch Spieler, hatte er gemeinsam mit anderen Kollegen den Zapfenstreich deutlich überzogen und war erst am frühen Morgen mit schwerer Zunge ins Trainingslager zurückgekehrt.