Vor gut 20 Jahren gehörte es zur Uniform der Jugend: das Palästinensertuch. Es galt als Erkennungsmerkmal der Aufmüpfigen und war bei jeder Demonstration zu sehen. Doch längst ist es in den Tiefen des Kleiderschranks verschwunden.

Ganz unten im Kleiderschrank, da liegt es noch - das Palästinensertuch. Ausgewaschen und verfärbt, der Stoff an einigen Stellen bereits ganz dünn, die Troddeln zottelig auseinandergeflust. Schon jahrelang hat das rot-weiße Ding nicht mehr das Tageslicht gesehen. Aber bei jedem Umzug bewahrte die Erinnerung das Tuch vor dem Müllsack. Vor rund 20 Jahren gehörte es schließlich zur Uniform.

Das Palästinensertuch als Kennzeichen aller, die gegen etwas sind oder anders als die Norm empfinden, war "in" in der linkslaunigen Protestszene. "Es war ein Symbol für das Spiel mit der Illegalität", sagt der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung. "Man konnte es um den Kopf schlingen und sich so schnell vermummen." Das Palästinensertuch war angesagt als Symbol des Zusammenhalts, als Erkennungszeichen derjenigen, die sich als kritisch und vermeintlich nicht angepasst empfanden.

1967 trat das weiße Baumwolltuch mit dem roten oder schwarzen Hahnentritt-Muster seinen Siegeszug gen Deutschland an. Damals gewann Israel den Sechs-Tage-Krieg gegen die Araber. Beim Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und seinen immer in korrekter Kleidung protestierenden Mitgliedern kehrte sich daraufhin die pro-israelische Stimmung ins Gegenteil. Man begann mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) zu sympathisieren und trug als Zeichen der Verbundenheit den "Palästinenser-Feudel".

Eigentlich heißt das Tuch Kefije. Es fällt weit über die Schultern herab und schützt die Nacken der Araber vor der sengenden Sonne. Damit das Tuch im Wüstenwind nicht davonfliegt, wird normalerweise eine kräftige Schnur aus Wolle oder Kamelhaaren, Agal genannt, um den Kopf gewunden. Berühmtester Kefije-Träger ist ohne Frage der frühere PLO-Chef und heutige Palästinenser-Präsident Jassir Arafat.

1969 etablierten sich offizielle Kontakte zwischen der PLO und dem SDS. "Bis zu 100 SDSler hielten sich zeitweise in jordanischen Trainingscamps der PLO auf und informierten sich über die Verhältnisse", berichtet Kraushaar. Gleichzeitig wurden in vielen westdeutschen Städten Solidaritätskomitees mit dem Befreiungskampf der Palästinenser gegründet. Befördert wurde diese Entwicklung mit einer wachsenden anti-amerikanischen Haltung in der deutschen Linken - Stichwort Vietnam-Krieg, Bürgerrechtsbewegung unter Martin Luther King, Protestströmungen in Südamerika. "Und Israel wurde als Vorposten der USA gesehen", so Kraushaar.

Nach Meinung des Hamburger Politikwissenschaftlers sorgte das Tuch für eine "Verknüpfung mit einer utopischen Idee". Wer es sich um den Hals schlang, suchte "Anschluss an ein globales Netz, das den Moloch Imperialismus" in die Knie zu zwingen versuchte. "Das Tuch wurde ebenso wie die damals weit verbreitete Mao-Bibel zum Ausdruck eines Kampf- oder Bewegungszieles", interpretiert Kraushaar.

In den 70er-Jahren verselbstständigte sich das Palästinensertuch. Den politischen Hintergrund des gemusterten Quadrats aus Baumwolle kannte kaum noch jemand. Das Tuch wurde zum Ausdruck für einen Gruppenzusammenhalt und Erkennungszeichen dafür, dass man irgendwie mit den herrschenden Verhältnissen nicht so ganz einverstanden war. Olivgrüner Parka, helle Leder-Boots und Palästinensertuch waren die Uniform der Jugend - so wie heute in bestimmten Altersgruppen übergroße Cargo-Hosen und Marken-Turnschuhe angesagt sind.

Immerhin erreichte das Palästinensertuch in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit so einen Stellenwert, dass es sich heute im Bonner Haus der Geschichte auf einer Figurine wiederfindet. "Es war prototypisch für Mitglieder der Protestbewegung und sorgte als Accessoire für Außenkennung", begründet Helene Thiesen, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung "1974 bis zur Gegenwart", die Auswahl dieses Einzelteiles.

Wem das Stoffstück aus Arabien zu weit ging, der begnügte sich mit selbstgefärbten Tüchern aus Windel-Mull. Die gehörten vornehmlich in Rot- und Blautönen zu meiner Standardausrüstung, als ich im Oktober 1977 mein Germanistik-Studium in Münster begann. Dieser neue Lebensabschnitt begann mit einem politischen Paukenschlag. Die Leiche vom entführten Arbeitgeber-Präsidenten Hanns Martin Schleyer war im französischen Mühlhausen im Kofferraum eines Autos gefunden worden, die Anführer der "Rote Armee Fraktion" (RAF) Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe begingen in der Haft in Stammheim Selbstmord.

In Münster gab es Fackelzüge und Kundgebungen für die Opfer feiger RAF-Anschläge - für mich die erste richtige Demo als Studentin. Palästinensertücher, die in der konservativ-katholisch geprägten westfälischen Uni-Stadt verpönt waren, hatte ich noch nicht auf der Rechnung.

Zwei Jahre später wechselte ich der Liebe wegen an die Universität in Göttingen. Dort war das politische Klima eher links, also gab es auch mehr Palästinensertuch-Träger. Oder besser gesagt: Man machte sich in der südniedersächsischen Fachwerk-Beschaulichkeit an der Leine traditionell mehr Gedanken um Staat und Gesellschaft. 1837 beschuldigten sieben Professoren den König des Verfassungsbruchs, 1955 zwangen Proteste an der Uni den damaligen Kultusminister (Richard Voigt, SPD) zum Rücktritt, zwei Jahre später sprachen sich 18 Atomwissenschaftler im "Göttinger Manifest" gegen eine Atombewaffnung der Bundeswehr aus.

1977 verschärfte sich die Göttinger Aufmüpfigkeit. Kurz nach dem Mord der RAF an Generalbundesanwalt Siegfried Buback hegte ein gewisser "Mescalero" in einem Flugblatt "klammheimliche Freude" ob der Tat. Sofort gerieten Uni und Stadt zu Verfassungsfeinden, aber die Wellen ebbten schnell ab.

Doch ein anderes Problem ging die 120 000 Göttinger und die etwa 25 000 Studenten viel persönlicher an - es gab zu wenig bezahlbaren Wohnraum. 5000 Wohnungen fehlten Ende der 70er-Jahre. Gleichzeitig aber ließen findige Bauspekulanten zahlreiche Häuser in der Innenstadt systematisch verfallen, planten dort elegante Quartiere und warben bei möglichen Investoren mit hohen Steuervorteilen. Ein Drittel der 500 Mark, die meine Eltern mir monatlich überwiesen, verschlang die Miete für mein kleines Zimmer im Studenten-Wohnheim am Göttinger Stadtrand. Ich setzte meine Unterschrift auf Protestlisten gegen die Bauspekulanten und kaufte mir ein Palästinensertuch.

Damit befand ich mich in bester Gesellschaft mit vielen Theologie-, Germanistik- und Soziologie-Studenten. Angehende Diplom-Kaufmänner oder Juristinnen in spe bevorzugten Kaschmirschals oder Perlenketten.

Das Tuch benutzte ich wie einen Schal, wie ein nützliches Accessoire. Damit ging ich in die Uni, ins Café, in die Stammkneipe. Selbst auf Besuch bei meinen Eltern legte ich es nicht ab. "Kind, was soll dieser Lumpen?", stöhnte meine Mutter. "Ich strick dir mal was Ordentliches für den Hals."

Neben Berlin, Zürich und Amsterdam avancierte Göttingen zur Hochburg der Hausbesetzer. Diese Jugendbewegung war nicht akademisch bestimmt, es gab keine theoretischen Diskurse, sondern sehr pragmatische Gründe für den Protest.

Das Haus Nummer 35 an der Jüdenstraße und das Alte Klinikum an der Goßlerstraße waren Zentren der Auseinandersetzungen. Diverse Räumungsaktionen schlugen fehl, Protestler und Ordnungshüter lieferten sich ein Katz-und-Maus-Spiel, Steine flogen. Auf der anderen Seite wurden Tränengas und Wasserwerfer eingesetzt.

Wir diskutierten das Thema in den Seminaren, ich ging zu Kundgebungen und Uni-Vollversammlungen. Nicht in vorderster Front, nicht als Feindin des Systems an sich, sondern als eine, die mit einzelnen Facetten nicht übereinstimmte. Ich war eine bürgerliche Mitläuferin dieser diffusen Bewegung.

Aber ich fühlte mich gut aufgehoben: Viele Göttinger, in deren Kleiderschränken man ein Palästinensertuch genauso wenig fand wie ein Modellkleid von Karl Lagerfeld, hatten Verständnis für die Studenten, Schüler, Lehrlinge und versprengten Spontis, die sich als Besetzer in ihrem neuen Heim häuslich einrichteten. Sie spendeten Möbel, brachten Lebensmittel, gingen mit den jungen Leuten auf die Straße. Hier geschah etwas, was Kritik hervorrief, und die musste geäußert werden. Göttinger Geist in bester Tradition.

Bis zum Silvesterabend 1980/81. Da gingen im Böller- und Raketenhagel am Marktplatz vor dem Alten Rathaus die Schaufensterscheiben von 21 Geschäften zu Bruch. Auslagen wurden geplündert, ein Pulk aufgebrachter junger Menschen stürzte sich auf die Polizeibeamten. Die Sympathien waren mit diesem Vorfall verscherzt, Angst verdrängte das Wohlwollen.

Das Bundeskriminalamt ermittelte in Sachen Hausbesetzungen, das Gerücht machte die Runde, die Reste der RAF würden unter den Häuserkämpfern neues Personal rekrutieren. Wer sich mit dem Palästinensertuch den Hals wärmte, der wurde kritisch beäugt. Ich war gegen die Wohnungspolitik der Stadt, aber auch gegen Gewalt. Mein "Feudel" blieb zu Hause am Haken, ich griff auf eine gefärbte Windel zurück.

Im Sommer 1981 hatten die Hausbesetzungen in Göttingen ein Ende. In Berlin währte diese Ära 19 Jahre, aus vielen Häuserkämpfern wurden ordnungsgemäße Mieter. In Hamburg hielt die Hafenstraße die Stadt in Atem: Räumungen, Krawalle, Barrikaden, der Rücktritt von Bürgermeister Klaus von Dohnanyi, Gerichtsverfahren und schließlich der Verkauf der Häuser an die Genossenschaft "Alternativen am Elbufer" waren nur einige Meilensteine, bis nach 14 Jahren im Dezember 1995 endlich Ruhe am nördlichen Elbufer einkehrte. Auch hier gehörte das Palästinensertuch zum Outfit, ebenso wie bei den Friedens- und Anti-Atomkraft-Demonstrationen Anfang der 80er-Jahre.

Und heute? In der Kneipe vom "Tacheles", dem alternativen Kulturzentrum an der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte, sitzen des öfteren noch die Fans des arabischen Stoff-Vierecks beim Bier. Aber als Erkennungszeichen oder stilisierte Fahne der deutschen Protestbewegung, wie vor 15 oder 20 Jahren üblich, hat das Tuch ausgedient.

Der Hamburger Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar hat dafür eine einfache Erklärung: "Es wird nicht mehr so viel demonstriert." Die traditionellen Ostermärsche kämpfen ums Überleben, während des Kosovo-Krieges wurden mehr als einmal die Protestzüge der Friedensbewegung vermisst. Kraushaar sieht unterschiedliche Gründe: "Der Kalte Krieg ist Geschichte, die klar abgegrenzten Lager haben sich aufgelöst. Und 16 Jahre Kohl-Regierung haben andere Werte als Solidarität und Gemeinschaftsgefühl durchgesetzt."

Wer Ende der 70er-Jahre und Anfang der 80er als Student mit Hausbesetzern sympathisierte, zur Friedensdemo in den Bonner Hofgarten pilgerte oder sich in Mutlangen als Sitzblockierer einen nassen Allerwertesten holte, der ist heute abgeklärter und über das Alter des Berufsjugendlichen hinaus. Protest wird an professionelle Organisationen delegiert. "Man spendet für Greenpeace, Ärzte ohne Grenzen oder Amnesty International", sagt Kraushaar. "Das erleichtert den Rückzug, aber beruhigt trotzdem das Gewissen."

Wenn aber ein Castor-Transport durch die Republik rollt, erlebt das Palästinensertuch eine Wiederauferstehung. Tausende von Demonstranten entlang der Strecke haben den "Feudel" plötzlich wieder um den Hals geschlungen und den Anti-Atomkraft-Button an der Brust. Als allgemein gültiges Signet einer Bewegung hat der weiße Baumwollstoff mit schwarzem oder rotem Muster sich verschlissen. Schließlich ist auch der Protest nur noch punktuell und von kurzer Dauer. Ist der Castor-Behälter erst im Endlager verriegelt, dann wandert das Palästinensertuch wieder in die Tiefen des Kleiderschranks.

Und ich trage heute ab und an eine Perlenkette.