Er heißt Wolf Biermann, er kann sprachgewaltig austeilen und empfindsam dichten. Er schreibt über die Liebe zu seinem eigenen “Quadratmeterchen Elbe“.

Liebe? Hamburg ist eine kleine Weltstadt und mir viel zu groß, um es zu lieben. Frag doch mal einen Vogel nach seinem Lieblingsplätzchen - und er wird Dir ein Lied über sein Nest zwitschern und nicht über den großen Wald. Wer wohnt schon wirklich in irgendeiner Stadt, ach was! Man wohnt nicht mal in seinem Stadtteil, man bewohnt nur einen engeren Kiez, man haust in seiner Straße. Die Allermeisten kennen kaum mehr als drei vier markante Teile und fühlen sich wohl in der einen oder anderen Ecke.

Und selbst die Wohnung ist für uns chronische Nestflüchter kein zuverlässiger Platz. Rechte und Besitztitel sind vergänglich. Die Wohnung wird gekündigt, ein Haus kann verkauft werden müssen. Aber ein winziger Teil von Hamburg gehört mir persönlich auf immer: Es ist ein imaginäres Quadratmeterchen Elbe - und zwar genau in der Mitte des Flusses, eine Fläche im Wasser. Man findet die Stelle leicht auf halbem Wege zwischen dem Museumshafen Oevelgönne und dem Athabaska-Höft, wo auf der anderen Seite des Flusses die Seeschiffe anlegen. Dort ist mein stabiles Seelennest, mein fließender fester Ort, und der gehört zu mir, solange es meinem Hamburger Fischkopfherzen gefällt.

Manchmal schaukelt eine Möwe auf meinem Wasserstück, manchmal tuckert eine Barkasse mit Touristen über den ewig flüssigen Flecken, manchmal bügelt die Englandfähre meine Welle platt. Die wechselnden Farben meiner sehr beweglichen Immobilie spiegeln das sich wandelnde Licht immer anderer Himmel über dem Fluss. Das verfärbt sich wunderbar mit den Wolken vom bleiernen Grau bis zum schönsten Mittelmeerazur. Und wenn sich zerbrochene Eisschollen in der Fahrrinne drängeln, bin ich es auch zufrieden. In der Dunkelheit hängt eine ockerdunstige Lichtglocke über dem Hafen. Am schönsten zittern bei Nieselregen die Reflexe von den tausend Halogenlampen auf dem Athabaska-Höft und fallen sternförmig über die goldglitzernden Wellen in mein Auge.

Mein allererstes Nest in Hamburg ist verbrannt im Feuersturm unter dem Bombenteppich im Jahre 1943. Die Schwabenstraße in Hammerbrook gibts nicht mehr.

Böll witzelte: Ein In-die-Heimat-Vertriebener

Nach der Nazizeit mein nächstes Nest war am Laukamp 10 in Langenhorn. Auch das ist passé, denn 1953 brannte ich durch nach Osten. Damals schwamm ich gegen den Strom der Flüchtlinge und wurde DDR-Bürger.

Im November 1976 geriet ich zurück in den Westen, wie Heinrich Böll damals witzelte, als ein "In-die-Heimat-Vertriebener", zurück in meine Vaterstadt. Politische Flut und Ebbe. Und inzwischen könnte unser schönes Nest in Altona mein liebster Platz geworden sein.

Das Bett, in das ich seit über 20 Jahren gehöre, steht nicht direkt am Hang des Elbufers. Aber nachts, wenn der Wind günstig steht, kommt durch das offene Fenster von Ferne das Heulen der hochbeinigen Peiner (Van-Carrier, d. Red.) aus dem Freihafen. Das scharfe Quietschen einer Winsch schneidet ins Ohr. Und dazu genieße ich den dröhnenden Klang der Vierzig-Fuß-Container.

Symphonisches Tonfarbenkonzert

Wenn so eine stählerne Kiste nämlich von der fahrbaren Containerbrücke auf das Deck irgendeines kolossalen Ro-Ro-Schiffs abgesenkt wird und dann büschn hart aufkommt, dann gibt es diesen typischen Ton: Bnnk! Babnnk!

Und wenn mal bei Nebelwetter die Sicht auch noch schlecht genug ist, dann genieße ich ein symphonisches Tonfarbenkonzert, dann hört man das schwarz-tiefe Tuten irgendeines auslaufenden Passagierdampfers und den gelb-quäkenden Warnton eines Schlickrutschers und das rot-stechende Signal der Schlepper, die einen einlaufenden Tanker auf den Haken nehmen.

Ja, bei solcher Musik kann ich ruhig einschlafen, dann denke ich schon halb im Traum: Die Stadt, in der ich lebe, sie lebt. Wenn der Hafen brummt, wenn der Handel blüht, wenn die Wirtschaft boomt, dann kassiert auch der Senat unseres wohlhabenden Stadtstaates von den Firmen Steuern, dann zahlen die Reedereien der Container-Carrier und Massengut-Frachter das hohe Liegegeld, dann gibt es Arbeit für Spediteure und für die Schauerleute und Gabelstapler bei der HHLA, für die Schweißer auf den Schwimmdocks bei Blohm + Voss und für einen Taxifahrer, der einen Schiffsoffizier vom Athabaska-Kai über die Köhlbrandbrücke nach St. Pauli schafft und gleich wieder zurück. Der Hafen ist schnell, denn Zeit ist hier viel zu viel Geld. Und wenn meine geliebten Fischköpfe genug verdienen, können sie sich auch 'ne Karte kaufen für mein nächstes Konzert. So funktioniert hier mein kleiner Kreislauf der Volkswirtschaft.

Was da gelegentlich verschifft wurde, kann mir allerdings den Schlaf rauben: moderne chemische Anlagen zur Herstellung von Giftgas und bakteriologischen Waffen, getarnt als technische Ausrüstung für Düngemittelfabriken, Destination: Libyen. Manches Schiff transportierte von hier aus spezielle deutsche Wertarbeit: Aggregate zur Produktion von angereichertem Uran, die in den offiziellen Lieferpapieren als Laborbedarf kaschiert wurden. Destination: Iran. Panzer wurden hier schon einmal verladen, die auf dem Frachtbrief mit treffender Metaphorik als "Landgewinnungsmaschinen" ausgewiesen waren, damit halt irgendwelche Waffenexportgesetze nicht verletzt werden. Destination: Naher Osten.

Doch das sind die Ausnahmen. Bananen, Holz, komplette Fa-brikausrüstungen, Baumaschinen, Lokomotiven, Lastwagen, Erdöl, Rohkaffee, Teppiche, Gewürze, Baustoffe, Kohle, Weizen, Erze und massenhaft Textilien, Videos, Motorräder, Autos, Computer aus Fernost - das sind die wahren Warenströme. Wohl die meisten Leute im Königreich Bayern oder im Freistaat Sachsen denken: Dieses Hamburg mit seinem Welthafen liegt irgendwo da oben an der Nordsee. Wer denn, tief im Süden, weiß schon, dass die Elbe von hier aus noch endlose einhundert Kilometer Luftlinie bis nach Cuxhaven braucht, wo sie sich dann schließlich mit all ihrem Indus-trieschlamm, mit Sand und Steinen in die Nordsee wälzt.

Trotz dieser erheblichen Entfernung ist nun aber die Gewalt des Meeres dermaßen groß, dass bei Flut noch hier in Hamburg der mächtige Elbstrom rückwärts fließt, Richtung Osten, also den Berg hoch. Und wenn gelegentlich Freunde von außerhalb mich besuchen, dann gefällt es mir, ihnen dieses Naturschauspiel vorzuführen. Wir reden dann über die Physik von Ebbe und Flut, die man hier am Elbefluss allerdings anders nennt: "Ablaufendes Wasser" - und "Auflaufendes Wasser".

Ich spazierte neulich mit einem Freund aus Leipzig wie ein dilettierender Fremdenführer den Elbhang runter zur Övelgönne. Von dort aus liefen wir den Strand lang bis zur beliebten Strandperle, holten uns am Kiosk einen kühlen Drink und saßen dann dicht am Wasser und genossen das Panorama.

Heraklit und das Ökologische

Tja und da philosofrozzelte ich dann über Heraklit:

Weißtu, . . . man kann offenbar doch zweimal in denselben Fluss steigen. Dreimal sogar: Du steigst hier bei ablaufendem Wasser in den Fluss. Wenn der Fluss dann aber den Berg hoch fließt, kommt dieselbe Brühe ja wieder an diese Stelle hier zurück, und dann gehst du also ein zweites Mal in dasselbe Nass. Und wenn dann der Fluss endlich wieder normal nach Westen runter fließt, gehst du zum dritten Mal in das nämliche Wasser.

Mein Freund murrte: So dämlich war der Heraklit nicht, das wusste der auch!

Ich drehte dann die nächste Pirouette und sagte: Eigentlich isses noch anders: Es kann nicht derselbe Mensch zweimal in welchen Fluss auch immer steigen, weil der Mensch sich noch rasanter ändert als der Fluss.

Hoffen wirs! - flapste mein Freund.

Und dann retirierte ich ins Ökologische: Es wär' schon gut, wenn das Elbwasser wieder so sauber wird, dass wir hier wenigstens e i n m a l in den Fluss steigen können!

[GROSSES GEFÜLLTES STERNCHEN]

Der 1936 in Hamburg geborene Liedermacher Wolf Biermann siedelte 1953 nach Ost-Berlin über, bekam dort Probleme mit der Partei. Einem Auftrittsverbot 1965 folgte 1976, als Biermann durch die Bundesrepublik tourte, ein Einreiseverbot. Biermann lebt heute wieder in Hamburg.