Von HEINER SCHMIDT Stotel - Die Tauben haben es gut in Stotel. Mitten im Dorf steht ihr bevorzugter Start- und Landeplatz. Um Luft unter die Flügel zu bekommen, müssen sie nur einen kleinen Hüpfer aus einem der oberen Stockwerke des Stahlbetonskeletts machen, das sich gut 50 Meter hoch über Einzelhäuser und viergeschossige Wohnblocks erhebt. Es muß ein weiter Blick sein von da oben aus dem 15. Stockwerk über das platte Hinterland der Nordseeküste. Die Möwen aus dem nahen Bremerhaven schauen auch gern vorbei.

Die 2400 Stoteler können an dem Koloß gar nicht vorbeischauen. Von fast jedem Punkt im Ort fällt der Blick auf den grauen Riesen, der da seit nunmehr 26 Jahren steht und den niemand mehr sehen will, jedenfalls nicht so.

"Die Ruine muß endlich verschwinden", sagt Klaus Kaliske, der Bürgermeister der Gemeinde Loxstedt (Landkreis Cuxhaven), zu der Stotel gehört. Das findet Helmut Wenzel, der Geschäftsführer der Grundstück Stotel GmbH & Co. KG, eigentlich auch. Nur daß er lieber von einem "Rohbau" oder einem "unfertigen Gebäude" spricht, das er liebend gerne vollenden lassen würde, wenn ihm denn nicht ständig Knüppel zwischen die Beine geworfen würden.

Aber das ist nur ein kleiner Teil der Geschichte davon, wie Stotel zu einem Hochhaus kam, das schon immer ein paar Nummern zu groß war, das nie fertig wurde und das der Ort nun nicht wieder loswird. Eine Geschichte, die reich ist an Facetten und Anekdoten, in der die Untiefen des kommunalen Baurechts ebenso Wirkung entfalten wie revolutionär neue Methoden der Betonverarbeitung, in der Rolls-Royce-fahrende Bauträger mit Finanzamtsproblemen, glücklose Fliesenlegermeister, ehrgeizige Kommunalpolitiker und gescheiterte Ex-Brotfabrikanten auftauchen und wieder verschwinden. Eine Geschichte, die vermutlich noch lange nicht zu Ende ist, wenngleich die Bezirksregierung Lüneburg den Widerspruch der Eigentümer gegen eine Abrißverfügung des Landkreises Cuxhaven vor kurzem kostenpflichtig abgewiesen hat.

Anfangs ging es um die Eigenständigkeit

Angefangen hat all dies irgendwann Ende der 60er Jahre, als Bremerhaven noch eine aufstrebende Hafenstadt war, allerorten in großem Stil Wohnungen auf grüne Wiesen geklotzt wurden und Stotel die Eingemeindung nach Loxstedt drohte. Auch weil die Stoteler lieber eine eigenständige Gemeinde bleiben wollten, waren sie aufgeschlossen, als ein schillernder Investor aus Bremen ihnen den Vorschlag antrug, 15 Vier- und drei Achtstöcker an den Ortsrand zu setzen und so auf einen Schlag 1000 Neu-Stoteler zu gewinnen.

Der Bebauungsplan war zügig aufgestellt und genehmigt, 1971 rückte eine französische Baufirma an. Weil die mit besonders wenig Personal besonders schnell besonders festen Beton gießen konnte, war Stotel bald ein Vorzeigemodell. Von weither reisten Delegationen an, um sich die neue Technik vorführen zu lassen. Vielleicht wollte man den Besuchern einfach einen Gefallen tun, vielleicht waren es die Signale, die von übergeordneten Dienststellen ausgesandt worden sein sollen, man könne die "städtebauliche Dominante" ruhig noch ein wenig mehr betonen, die notwendigen Genehmigungen würden schon folgen - als der Bremer Baulöwe 1973 in Haft genommen wurde, waren die Stoteler Zukunftsträume statt acht- schon 15stöckig in den Himmel gewachsen.

Seitdem haben die Aktivitäten um das Hochhaus sich von der technisch-konstruktiven vollends auf die juristisch-administrative Ebene verlagert. Zunächst war es ein Fliesenlegermeister aus Nordenham, der sich für schlappe 37 000 Mark die Eigentumsrechte sicherte, aber auch bald pleite war. Dann stellte die Gemeinde Loxstedt - Stotel war natürlich doch eingemeindet worden - einen neuen Bebauungsplan auf, der wenigstens 13 Stockwerke hergab. Doch eine 1984 erteilte Baugenehmigung verfiel drei Jahre später ungenutzt.

Irgendwann in einem langwährenden Hickhack um Konkursmassen, Zwangsversteigerungen, Anliegerbeiträge, staatliche Wohnungsbauförderung und Grundflächenzahlen kommt der alteingessene Stoteler Kaufmann und Brotfabrikant Helmut Wenzel als Eigentümer ins Spiel, und irgendwann platzt der Gemeinde Loxstedt der Kragen: Niemals mehr soll das Hochhaus fertiggestellt werden, es muß weg, lautet nun die Marschrichtung.

Heute ist das Gebiet ein sozialer Brennpunkt

Das Wohngebiet am Ortsrand hat sich zu einem sozialen Brennpunkt entwickelt. Nirgendwo sonst im Landkreis sei der Anteil der Sozialhilfeempfänger höher, sagt der Bürgermeister. Davon will man nicht noch mehr, und daß das Hochhaus nicht in die Landschaft paßt, kann man schon aus vielen Kilometer Entfernung sehen.

Doch die erste, 1989 erlassene Abrißverfügung wurde vom Stader Verwaltungsgericht verworfen, weil die Interessen der Eigentümer nicht hinreichend berücksichtigt worden waren. Die Gemeinde hat inzwischen ihrerseits den alten Bebauungsplan verworfen. Der neue erlaubt höchstens eine dreigeschossige Bauweise. Nun steht die nächste Abrißverfügung an. Die von Gutachten unterfütterte Begründung: Das Betonskelett sei eine baufällige Ruine.

"Alles gefälscht", wettert Helmut Wenzel und zeigt Gutachten vor, in denen das genaue Gegenteil steht. Der Franzosen-Beton sei immer noch hart und nur ein bißchen sanierungsbedürftig. Gerade erst hat Wenzel der Gemeinde vorgeschlagen, den Rohbau zum Call-Center auszubauen. "Das würde 400 Arbeitsplätze bringen." Daß die Stoteler das Haus nicht mehr wollen, kann er weder glauben noch verstehen. Sicher: Die Abrißkosten müßte der Eigentümer tragen. "Müßte", bestätigt Wenzel mit feinem Lächeln. Bei der Stotel Grundstücks GmbH wird nichts zu holen sein, auf ihr lasten Millionenschulden.

Das weiß auch Bürgermeister Kaliske. Längst haben Gemeinde, Landkreis und Land sich auf eine Drittelung der Abrißkosten verständigt. "Mit 300 000 bis 400 000 Mark wären wir dabei", sagt der Bürgermeister. Das wäre es der Gemeinde wert. Doch Helmut Wenzel will nicht aufgeben. Seine Anwälte, sagt er, bereiteten gerade eine Klage gegen die Abrißverfügung vor, und außerdem finde er zunehmend Gefallen an dem Gedanken, die Gemeinde wegen Eingriffs in seine Eigentumsrechte vor dem Europäischen Gerichtshof zu verklagen. Die Tauben werden es wohl noch einige Jahre lang gut haben in Stotel.