Wurde er im Juli 1954 das Opfer einer Entführung? Oder war es Landesverrat? Bis heute kämpft der ehemalige Präsident des Verfassungsschutzes um seine Rehabilitierung.

Otto Johns Stimme erinnert an alte und oft abgespielte Tondokumente, und fast alles, was sie sagt, hat historischen Wert, weü für Nebensächlichkeiten keine Zeit mehr ist. Otto John sagt dazu: "Ich lebe nicht mehr lange." Er hegt im Bett, vom Schlaganfall getroffen. Sein Körper ist der eines sterbenden Greises, das Sprechen fällt ihm schwer. Somit reduziert er es auf bedeutende Sätze. Und was vor vierzig, fünfzig oder sechzig Jahren geschah, erinnert er glasklar. Jedes Detail, wenn es erwähnenswert ist. Wie Stauffenberg am 20. Juh 1944 in die Berliner Straße kam und in einem historischen Irrtum sagte: "Hitler ist tot. Keitel lügt." Wie John selbst zehn Jahre später das Hotelzimmer in Berlin verheß und zu seinem verhängnisvollen Besuch bei Dr. Wohlgemuth aufbrach. Wie Wohlgemuths Wohnung aussah: "Eine Flucht von Türen." Wie John zwei Tage später in Ost- Berlin erwachte und weißbekleidete Leute mit Injektionsspritzen vor sich sah. ?Ich habe nur

mit Russen gesprochen, das waren alles nur KGB-Leute. Die sagten mir: ,Die Deutschen haben gar nichts damit zu tun, das ist unsere Sache.' Und sie sagten: ,Sie sind enghscher Agent, geben Sie es doch zu.'"

Ein Übriggebliebener aus einer vergangenen Epoche spricht herüber in die .Gegenwart: Otto John, einziger Überlebender aus dem engeren Kreis der Hitler- Attentäter vom 20. Juh, erster Verfassungsschutzpräsident in der Adenauer-Ära und legendenumwobenes Opfer des KGB und höchstwahrscheinlich auch der westdeutschen Justiz, kämpft selbst nach 40 Jahren noch aus der Agonie heraus für seine Rehabilitierung. In seinem Refugium in Igis bei Innsbruck - einem winzigen Dorf, das zu seinem Exil wurde.

Hier lebt er im Erdgeschoß eines Tiroler Gutshauses mit Bhck auf grünes Tal und die Alpen. "Zufall!" ist das einzige Wort, das John dazu einfällt, warum es ihn ausgerechnet nach Innsbruck verschlug. Nur der Kern seiner Biographie - die Zeit zwischen 1937 und 1958 und der Bezug zu dem "Fehlurteil" - interessiert ihn noch. Johns ehemals volles Gesicht ist abgemagert, seine Extremitäten dürr, die Wangen beginnen einzufallen, seine Gesten sind greisenhaft starr. Skeptiker könnten sagen, das gelte wohl auch für seinen Geist. Doch der ist stundenlang hellwach.

Am Nachmittag des 20. Juh 1954 trank der damalige Verfassungsschutzpräsident Otto John in der Berhner Wohnung des Frauenarztes Dr. Wolfgang Wohlgemuth eine Tasse Kaffee. John war nicht oft in Berlin. Diesmal war er anläßlich der Gedenkfeiern zum zehnten Jahrestag des 20. Juh gekommen. Nach der Feier ging er ins Hotel und von dort aus zu Wohlgemuth. "Ich hatte ihn während des Krieges als Assistenten von Sauerbruch kennengelernt. Er war kein Freund. Während des Krieges drängte er sich immer auf. Er wohte Benzinscheine. Ich war ja bei der Lufthansa, da bekam ich Benzinscheine. Ich dachte eben nur: Das ist der Assistent von Sauerbruch."

John sagt, er sei nur zu dem Arzt gegangen, da Wohlgemuth einen Patienten hatte, der an Kriegsfolgen gestorben war, und die witwe den befreundeten John in vielen Briefen darum gebeten habe, ihr von Wohlgemuth ein Attest darüber zu besorgen, damit sie Kriegswitwenrente bekomme.Daß der Verfassungsschutzchef allein in die Höhle eines "Salon-Bolschewisten" ging, wurde ihm später zumindest als Naivität vorgeworfen.

"Ja, naiv", sagt er, "was heißt naiv, ich wohte der Frau helfen. Die hat mich so gedrängt mit Briefen, und ich habe Wohlgemuth auch geschrieben, daß ich nicht eher weggehe, als bis ich es habe."

In der Wohnung des Arztes waren die beiden nicht allein - sagt heute eine Zeugin aus. In einer der vielen Zimmer habe ein Mann namens Max Wonzig gesessen. Er habe dort leise Musik gehört. "Den kannte ich nicht, den habe ich nie gesehen. Ich weiß nicht, ob er da war." Anfang der 70er Jahre erzählte Wonzig seiner Gehebten, was geschehen war. Und diese Ostberliner Gehebte sagte 1993 in einem TV- Film aus. Aber erst jetzt erklärte sie sich bereit, auch vor Gericht auszusagen. Am 15. September 1995 übermittelten Johns Anwälte ihre Aussage dem Berliner Kammergericht. Der inzwischen verstorbene KGB-Agent Wonzig habe nach eigenen Angaben im Nebenraum gewartet, Dis John die Tasse Kaffee getrunken hatte. Die "Zeit" bezog sich in einem Dossier über John auf ein Gutachten der Universität Heidelberg, nach dem sich eine Mischung von Atropin und Scopolamin im Kaffee befunden haben könnte.

John: "Wohlgemuth sagte dann: ,Wir müssen in die andere Wohnung, damit ich das Attest ausstehen kann.' Ja, wie wir zum Auto gingen, erinnere ich noch. Erst auf der Fahrt habe ich das Bewußtsein verloren." Wonzig, so sagt heute seine Ex-Geliebte, habe sich auf der Rückbank versteckt, bevor die beiden ins Auto stiegen. "Ich hab' da niemanden bemerkt damals", sagt John, "ich dachte natürhch, wir waren alleine im Auto." Der KGB- Agent, so die Aussage, habe John, nachdem der im Auto bewußtlos wurde, ein mit einem weiteren Betäubungsmittel ge- Foto: UPI

tränktes Tuch an den Mund gepreßt. In Karlshorst sei der Betäubte dann anderen KGB-Leuten übergeben worden.

Das Hitler-Attentat vom 20. Juh 1944 war entscheidend für den weiteren Verlauf des Falls John. Denn in der Adenauer-Re-

publik, wo gerade der "große Friede mit den Tätern" (Ralph Giordano) geschlossen wurde, falt der Widerstandskämpfer ohn sowieso als ranghöchster "Verräter". Er gehörte nicht zum Establishment der Ex-Nazis und ihrer Sympathisanten, die inzwischen wieder in höchsten Amtern zu finden waren. Daß er den Posten auch mit Hufe der britischen Besatzungsmacht erhalten hatte, grenzte ihn nur noch weiter aus. Und dieser widerspenstige Exot im noch bräunlichen Mief der 50er Jahre verschwindet über Nacht in Berlin, dem damaligen Mekka der Spionage, und taucht ausgerechnet im Osten wieder auf - beim Feind. Und dann gibt der höchste Verfassungsschützer des westlichen Deutschlands eine internationale Pressekonferenz - und verrät sein Land.

John wälzt sich im Bett, er krümmt sich, er hat es ja schon oft gesagt: "Angst!" Mimikry ist unter Geheimdienstexperten eine professionelle Form des Schutzes. Mithin hielt beispielsweise der damalige CIA-Chef Allen Dulles das, was John mündlich und schriftlich im Osten von sich gab, für Tarnung - und nicht für Verrat. John verriet keine Personen, niemand kam durch seine Reden zu Schaden. Er sah beim Erwachen in Karlshorst Injektionsspritzen. "Mir blühte Sibirien. Keiner der Russen nahm das Wort in den Mund, aber das hing immer als Drohung in der Luft." Gut möghch, daß der gleichsam sensible wie unbeugsame Geheimdienstchef nur in der Mimikry die Möglichkeit sah, sich zu retten und trotzdem niemanden ans Messer zu hefern. Im übrigen existierte sotar eine geheime Anweisung, ie dem Verfassungsschutzchef in einem solchen Fall vorschrieb, zum Schein mit dem politischen Feind zusammenzuarbeiten. "Die haben mir das alles Wort für Wort vorgeschrieben, was ich zu sagen hatte."

Tatsächlich blickte John während der besagten internationalen Ostberliner Pressekonferenz am 11. August 1954 während seiner 25minütigen Erklärung kaum einmal vom Blatt auf. Er fab auch andere Zeichen und lassiber weiter, die darauf hindeuteten, daß er nicht freiwillig hier war. Doch ein Teil der westdeutschen Presse begann eine beispiellose Hatz gegen ihn. Sie nannte ihn "Denunziant, Alkoholiker, Mitarbeiter berüchtigter Deutschenhasser, Homosexueller", ja sogar "Gestapo-Agent". Ahe Ressentiments gegen die Widerstandskämpfer des Dritten Reiches wurden gebäht gegen den "kleinen John" gerichtet. "Es war Rache für damals, für damals mit Stauffenberg." Am 12. Dezember 1955 flüchtete er zurück in den Westen. "Die Rückkehr des verlorenen John", wie Bundespräsident Heuss witzelte, wurde für Otto John zur Niederlage und Schmach seines Lebens. Er wurde wegen Landesverrats angeklagt. "Schon vor der Verhandlung sagte der Richter, ein alter Wehrmachtsrichter: ,Der John bekommt acht Jahre.' Und der beisitzende Richter war ein hundertprozentiger Nazi." Natürhch beteuerte der Angeklagte, ein Entführungsopfer gewesen zu sein. Wohlgemuth, einer der mutmaßlichen Täter, wurde gar nicht erst gehört.

Johns heutiger Anwalt: "Es gab einen grotesken Auftritt von Wohlgemuth auf der östhchen Seite Berlins. Die Bundesrichter standen auf der westhchen. Wohlgemuth brühte etwas hin- über und sagte, John sei besoffen gewesen. Aber die Aussage wurde vor Gericht gar nicht verwertet." Der Staatsanwalt forderte nur zwei Jahre, der Richter verdoppelte auf vier Jahre.

Seit er am 25. Juh 1958 aus der Haft entlassen wurde, kämpft John um Wiederaufnahme des Verfahrens. Er durfte nicht mehr als Jurist arbeiten. Er bekam keine Rente. "Ich lebte von Freunden, von meiner Familie." Hier in Innsbruck. Der Mann, der zehn Jahre deutsche Geschichte prägte, arbeitete nun fast vierzig Jahre lang "im Garten".

In einem Weinkrampf stemmt er sich im Bett auf und schreit: "Ein Martyrium! Das war ein Martyrium!" Es ist das Resümee eines Lebens.

Zwar versicherten ihm mehrere Bundespräsidenten und Kanzler, daß sie ihm glauben, aber erst Richard von Weizsäkker begnadigte John 1986 und sorgte so für eine Gnadenrente. Anfang der 90er Jahre meldete sich aus Moskau Walentin Falin, einst Botschafter der UdSSR in Bonn, und bestätigte: John hat recht. "Er kam nicht freiwillig in den Osten." Auch zwei ehemalige KGB-Offiziere bezeugen das inzwischen. Insgesamt präsentieren Johns Berliner Anwälte sechs neue Aussagen. Der große Nachteil dabei ist, daß sie auf Hörensagen beruhen: Die Hauptakteure Wonzig und Wohlgemuth sind längst beide tot. Und die Erfolgsquote von Wiederaufnahmeanträgen liegt bei nur einem Prozent.

Während des Gesprächs klingelt Johns Telefon. Ein Antiquitätenhändler fragt nach den Möbeln im Gutshaus. "Es sind ja alte Möbel", erläutert John später. "Zum Teil noch von damals, aus Berhn. Aus den 30er Jahren, als mein Bruder noch lebte." Er möchte sie verkaufen, bevor er stirbt. Ob Otto John seine Rehabilitierung noch erlebt, ist fraglich. Er sagt: "Ich habe große Hoffnung."