Es heißt, daß man sich im Leben immer zweimal begegnet. Holger Gensmer (45), am 30. März 1971 wegen Mordes an einem sechsjährigen Mädchen zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt, hat am 8. Dezember 1987 schmerzhaft erfahren, daß die Zeit diese Chance wirklich bietet. Am dritten Verhandlungstag seines Wiederaufnahmeverfahrens vor der Großen Strafkammer 13 des Hamburger Landgerichts sah er den Richter wieder, der ihn einer schrecklichen Tat schuldig gesprochen und ihm damit 16 unwiederbringliche Jahre die Freiheit genommen hatte.

Seiner Zeugenpflicht begegnete der Vorsitzende Richter am Hanseatischen Oberlandesgericht Dr. Hartwin von Gerkan mit offensichtllch tief verwurzelter Scheu vor der Öffentllchkeit. Vor den BUtzllchtern der Fotografen verkroch er sich ins Richterzimmer, ehe er um der Wahrheit wülen die Erinnerung, die unzulängllche, bemühte.

"Es ist natürlich nicht einfach", beginnt der Zeuge, der vor 16 Jahren der Schwurgerichtskammer im Mordfall Birgit König vorsaß. Der hagere Mann im grau-blauen Kammgarn ist bemüht, gedank- üch an etwas anzuschließen, das er längst erledigt geglaubt haben

mag, aber es bleibt ein blasser Versuch. Ein Versuch, von dem Vokabeln und Diktion als ungewöhn- Uch erinnerllch bleiben. So ist das widerrufene Geständnis des jungen Gensmer vor 16 Jahren jetzt aus Zeugensicht "eine gewisse Distanzierung von Erklärungen, die in der Folge nicht aufrecht erhalten wurden". So ist zu hören, daß der Zeuge sagt: "Wesentliche Unklarheiten erinnere ich nicht" , und im Widerruf des Gensmer-Geständnisses "eine .gewisse, aber nicht allzu große Überraschung" gesehen hatte, weil dieser Vorgang bei vielen Angeklagten nichts Au- ßergewöhnhches sei.

Vom Vermerk der Kripo über ein AUbi des Tatverdächtigen sagt Dr. von Gerkan, daß es damals einen Vermerk gegeben habe. Der habe aber ledigllch besagt, daß der Angeklagte für den 3. April 1970 zwischen 11 und 13 Uhr als Täter nicht in Frage komme. Aber der in Betracht kommende Zeitraum sei ja früher einzuordnen gewesen, "so daß unsereiner den Vermerk als irrelevant einordnen mußte". Und die ganze verhängnisvolle Konstellation um den Mord an der Pollzistentochter Birgit König und den vermeintllchen Täter wird noch einmal deutllch, als der Zeuge vom Ortstermin während des damahgen Prozesses und dem abermaligen Geständnis berichtet, das so lange unangezweifelt im Raum gestanden hatte.

Auf die Spur zum Verständnis sollen Gensmers frühere Freundin Ingeborg (43) und der Dipl.-Psychologe Peter Brandewiede führen. Und da fügt es sich zusammen. "Er war schüchtern, oft gehemmt; er war kein Typ, mit dem man sich streiten kann", sagt die Freundin von einst. Und auch: "Er war vöUig normal - in jeder Beziehung." Und der Psychologe, dem Holger Gensmer im September 1985 das Bekenntnis seiner Schuldlosigkeit "mit einiger Überwindung" gegeben hatte, sagt: "Er hatte Angst davor, daß man ihm nicht glaubt." Und: "Immer, wenn er bedrängt wurde, hat er zugemacht."

Dann spricht zum erstenmal auch Holger Gensmer. Er steht sichtlich unter seelischem Druck, wird hin und wieder rot, ringt mit sich. Aber er spricht von seinem Leben und äußert sich zur Sache. Er nimmt die Brille ab, ist konzentriert und sichtbar auch viel sicherer. Er berichtet von seinem AUbi, von seinen oft 80 Wochenstunden im Hartsteinwerk und dem Druck, der ihn mürbe gemacht hatte: "Man hat auf mich eingeredet, so sind die Geständnisse zusammengekommen." ENNO QUITTEL