Er macht mit und fällt nicht auf. Er ist einer unter vielen, die in der Halle der Hamburger Turnerschaft von 1816 am Sievekingdamm Gymnastik treiben. Und doch steht dieser Mann im weinroten Trikot und in der blauen Trainingshose in besonderem Ansehen. Nicht nur bei denen, die sich sonnabends von neun bis zehn mit ihm und um ihn herum bewegen.

Dr. med. Hans-Georg Ilker, Internist und Vorsitzender der Hamburger Turnerschaft von 1816, turnt gemeinsam mit Kranken, die sich wieder gesund fühlen und auch so aussehen. Vor Monaten waren sie im Schlaf, vor dem Fernseher oder während der Arbeit vom heimtückischen Herzinfarkt überrascht worden.

Heute machen sie den Eindruck, als hätten sie nie unter der Zivilisationskrankheit gelitten, die sich hierzulande wie ein Waldbrand auszubreiten droht. Die da so munter Arme, Beine und Geräte schwingen, wirken in der lichten Halle eher wie fröhliche Hobbysportler in der Morgensonne.

Irgendwann aber sonnabends zwischen neun und zehn fällt Dr. Ilker doch auf. Er tritt aus der Gruppe heraus und testet die Die rettende Gymnastik bei der Hamburger Turnerschaft von 1816: Dr. Hans-Georg Ilker (Foto links, im Vordergrund) ist an Jedem Sonnabend dabei. Eigentlich wird nur deutlich, daß ein Arzt "mitturnt", wenn er (Foto oben) anderen zwischen Übungen den

Puls fühlt

Pulsschläge der Rekonvaleszenten. Er macht das, wie Ärzte so etwas eben machen: mit gewissenhafter Genauigkeit. Denn Ilker weiß: Wer einen Herzinfarkt durchgemacht hat, der lebt ständig in der Gefahr, einen neuen Infarkt zu bekommen.

Die Betroffenen wissen das auch, aber sie vertrauen dem Arzt im Vereinstrikot, der sich berufen fühlt, "die vom Schicksal schwer Gebeutelten in ein normales Leben zurückzuführen".

Dr. med. Hans-Georg Ilker sieht sich nicht als "Flickschuster", der Patienten mit Spritzen und Tabletten wieder auf die Beine hilft. Er versteht sich weit mehr als "Gesundheitsführer".

Vor fünf Jahren gründete er in seinem Hamburger Verein die erste Infarktsportabteilung Deutschlands. Ein Sprung ins kalte Wasser, wie Skeptiker meinten. Aber Ilker war überzeugt: Für den, der einen Herzinfarkt übersteht, ist es schädlich, wenn er künftig nach dem Rezept lebt: aufhören, abwarten, Rente beantragen.

Der erste Schuß vor den Bug bietet nach Ansicht des Arztes vielmehr die Chance einer entschlossenen Umstellung auf gesunde Lebensführung. Das bedeutet, daß Risikofaktoren wie Bewegungsmangel, Übergewicht, Rauchen, falsche Ernährung, hoher Blutdruck und psychosozialer Druck abgebaut werden müssen. Ein Infarktpatient kann hinterher leistungsfähiger sein, als er es lange Jahre vor der Attacke gewesen war.

Was in Ärztekreisen teils mit Verblüffung, teils mit Skepsis aufgenommen wurde, beginnt sich in Deutschland schon durchzusetzen. Außer in Hamburg gibt es in anderen Städten weitere Modelle. Das am weitesten ausgebaute ist das von Hans-Georg Ilker.

Er ist 50, gebürtiger Mecklenburger, seit vielen Jahren Hamburger, und er sieht aus wie ein Dauerurlauber im Luftkurort. Dabei kann er sich längere Ferien gar nicht leisten. Denn

- in seiner Praxis in der Schwarzenbergstraße 5 in Harburg berät und behandelt der Internist, der eigentlich Chirurg werden wollte ("wegen der aktiveren therapeutischen Möglichkeiten"), täglich etwa hundert Patienten,

- in der Hamburger Turnerschaft von 1816 motiviert er Sportler und Übungsleiter,

- am Hamburger Institut für Leibesübungen, wo er einen Lehrauftrag hat, bereitet er Studenten auf deren zukünftigen Beruf als Schullehrer vor. Gleichzeitig versucht er, den Studiosi den Beruf des Sportlehrers in Sportvereinen schmackhaft zu machen. ? Auf Kongressen sagt er den Turn- und Sportvereinsführern, daß sie es heute statt des nur noch im Symbol fortlebenden "Frisch, fromm, fröhlich, frei" mit vier anderen F zu tun hätten: Nämlich mit Menschen, die am Feierabend in Filzpantoffeln bei Flaschenbier am Fernsehgerät sitzen.

- Als Vorstandsmitglied des Vereins für kardiologische Prävention und Rehabilitation in Hamburg hat Ilker umfangreiche medizinisch-wissenschaftliche Arbeiten wahrzunehmen.

Ein Mann, der auf vielen Gleisen fährt und dabei nur ein Ziel vor Augen hat: denen zu helfen, die gesundheitlich bedroht sind, und auch denen, die mit dem Leben schon abgeschlossen haben.

"Meinen Sie nicht auch", fragt er mit der Bescheidenheit des eher untertreibenden Hamburgers, "daß es eine schöne Arbeit ist und dafür zu leben sich lohnt?"

Er sieht gesund aus, obwohl er eigentlich im Streß lebt. Das Rezept? Er hat für sich ein sportliches Programm entwickelt. "Dreimal in der Woche schwimme ich, zweimal in der Woche spiele ich Tennis, sonnabends treibe ich Infarktsport, und am Wochenende spiele ich noch ein bißchen mehr Tennis."

Dr. med. Hans-Georg Ilker, verheiratet, vier Kinder, wirkt unbefangen. Er ist ehrlich, nimmt kein Blatt vor den Mund, redet munter drauflos, und die ihm eigene Unbekümmertheit zaubert ein Lausbubenlächeln in seine Mundwinkel, wenn er sagt:

"Vom Tennis bin ich besessen. Oft spiele ich mit nacktem Oberkörper, obwohl die Klubführung so was nicht gern sieht. Aber früh um sieben ist von denen ja noch keiner da."

Woher nimmt er sich für den Sport die Zeit? Seine Antwort kommt prompt: "Das ist allein eine Sache der Organisation. Das sage ich auch meinen Patienten, die häufig glauben, man könne sportliche Betätigung ausschließlich in den Feierabend legen."

Er hat oft Schwierigkeiten, seine Patienten sportlich zu motivieren. "Sie sehen es fast alle ein, wenn ich ihnen in der Beratung sage, sie müßten zum Beispiel abnehmen und sich deshalb sportlich betätigen. Wenn ich sie dann nach einer gewissen Zeit bei einer Kontrollberatung wiedersehe und frage, wie es denn geworden sei mit dem Waldlauf oder dem Schwimmtraining, dann blicken sie verlegen zur Seite und sagen, sie wären aus diesen oder jenen Gründen nicht dazu gekommen."

Hans-Georg Ilker betrachtet derlei Geständnisse durchaus nicht als persönliche Niederlage. Er ist Arzt und gibt nicht auf. Er hat schon oft gewonnen, was verloren schien.