Johan Tobias Sergel? Wer ist das? So zu fragen, hat überhaupt nichts Peinliches ? vielmehr: ist völlig berechtigt. Aber die Chance nicht wahrzunehmen, Sergel jetzt kennenlernen zu können: das wäre eigentlich schade. Die Hamburger Kunsthalle bietet diese Chance. Die Ausstellung von Sergels zeichnerischem Lebenswerk (über die Eröffnung hat das Hamburger Abendblatt berichtet) ist so etwas wie das Ergebnis einer bedeutenden Expedition.

Zum erstenmal wird außerhalb seines Landes der Künstler vorgestellt, der als der größte Bildhauer Schwedens gilt. Werner Hofmann und seine Mitarbeiter (vor allem Hanna Hohl) haben in rühmenswertem Zusammenwirken mit dem Stockholmer Nationalmuseum Johan Tobias Sergel (1740"1814) ins internationale Licht gerückt. Der große Zyklus ?Kunst um 1800", in den Sergel ein halbes Jahr nach der Sensation Caspar David Friedrich (220 000 Besucher) einbezogen ist, sichert ihm eine nachhaltige Resonanz.

J. T. Sergel wurde als Sohn deutscher Eltern in Stockholm geboren. Sein Vater war königlicher Hofstikker, vermittelte ihm eine künstlerische Ausbildung. Schon als Akademieschüler erhielt er einen Preis und ? nach der Parisreise mit seinem französischen Lehrer ? ein Gehalt "für mühselige Hilfe und beschwerliche Arbeit" im Reichssaal des Stockholmer Schlosses.

Kurze Zeit nach dem "Meisterbrief" zog Sergel 1767 als Staatsstipendiat nach Rom (über Stralsund, Berlin, Dresden, Wien, Triest und Venedig). Elf Jahre Rom und Italienwanderung erbrachten bildhauerisch die klassizistische Form in antiker und abendländischer Tradition. Dagegen haben der Geist der Aufklärung und die Freude ? unter ihnen der schweizerische Engländer J. H. Füßli, im Zyklus der Hamburger Kunsthalle schon vorgestellt ? die Diesseitsfreudigkeit Sergels voll entfacht, damit wohl auch die inneren Konflikte.

Mit der Berufung als Hofbildhauer des Königs Gustaf III., die eine eher schmerzvolle Rückkehr nach Stockholm bedeutete, fand Sergel aber die Förderung durch einen verständnisvollen königlichen Mäzen. Nach dessen Tod (Attentat 1792) überfiel ihn tiefe Depression. Die Freundschaft besonders mit Carl Michael Bellman, einem wie in keinem anderen Land so volkstümlich gefeierten Dichter. hat da vieles bewirkt.

Ernst Moritz Arndt widmete Sergel in seinem Bericht "Reisen in Schweden", 1806, sehr genaue und auch enthusiastische Aufmerksamkeit: "Wer kennt den Namen dieses außergewöhnlichen Mannes nicht? oder wenigstens, wer sollte ihn nicht kennen? Nach allem, was ich von neuester Bildhauerei gesehen habe, ist Sergel der erste Bildhauer Europens . . . Welch ein kühner Geist fliegt mit ihm über seine Zeit empor und blickt auch aus der kleinsten Arbeit, die ich von ihm gesehen habe!"

Arndt hat auch die Zeichnungen gesehen und rühmt sie. Den "Riesen geist", den Arndt bewundert, ..der mit eigner Kraft die Welt umschafft": den können wir im Kuppelsaal der Kunsthalle nun anschauen und prüfen. Er erweist sich ganz und gar nicht als gigantisch. Man braucht eine Weile, um sich hineinzufinden in das vortreffliche Arrangement der über hundert Zeichnungen.

Der Bildhauer ist nur durch zwei Originale (Marmorskulptur "Mars und Venus", Stockholm, und ein Bildnismedaillon, Privatbesitz Hamburg), ansonsten durch Großfotos der Hauptwerke präsent. Der Transport von Plastiken wäre unerschwinglich gewesen. Aber hier kommt es ja auf den Sergel an, der den "modernen" Konflikt von Tradition und individueller Existenz in seinen Zeichnungen ausgedrrückt hat ? Goya sehr nahe. Man ist erstaunt und verblüfft, das zu sehen. Viel Vergnügen mischt sich hinein. Die Lebenslust Sergels (Erotik inbegriffen), die Demontage von Mythen und Dogmen, die Ironie sich und anderen gegenüber: Sie sind faszinierend, stimmen zugleich nachdenklich.