Was fängt ein Sechzigjähriger, der 19 Jahre unschuldig hinter Zuchthausmauern verbrachte, mit dem Rest seines Lebens an? Arthur Meinberg aus Finnentrop im Sauerland wurde, wie berichtet, wegen mangelnden Tatverdachts vom Siegener Schwurgericht von der Anklage des Mordes freigesprochen. Der Mord an dem 25jährigen Arbeiter Georg Sommerhoff bleibt auch nach diesem Wiederaufnahmeverfahren ungeklärt. Unser Redaktionsmitglied sprach mit Arthur Meinberg, der im ersten Verfahren vor 20 Jahren zu Lebenslänglich verurteilt worden war.

Von unserem Redaktionsmitglied

Dr. Hildegard Damrow

Siegen, 2. Mai

"Es war alles zuviel für mich, freuen kann ich mich noch nicht!", das sagte mir Arthur Meinberg nach dem Freispruch, der ihn nach 19 Jahren im Zuchthaus voll rehabilitierte. Der Sechzigjährige mft"dem schmalen, knochigen Gesicht wie aus einem Holzschnitt von Masereel, zieht einen goldenen Ring aus der Tascfcev streift ihn über den Finger und kommentiert: "Ich habe eine Frau gefunden, die mich heiraten will. Jetzt kann ich es ihr wohl zumuten."

Meintoerg erzählt, wie er nach der bedingten Entlassung vor einem Jahr bei der Düsseldorfer Wäschereibesitzerin Frau Jürgens Aufnahme fand, wie sie ihn allmählich in einen Kreis von Mensche" brachte, der ihn aufnahm, als sei er nie wegen Mordes verurteilt worden. Die warmherzige Frau aus Düsseldorf, die seit Jahren Gefangene betreut, ging mit dem entlassenen Zuchthäusler in den ersten Wochen viele Stunden an jedem Tag im Wald spazieren, damit er sich Von dem Großstadtlärm, der ihm unerträglich erschien, erholte. Sie lehrte ihn, mit den Ampeln, den flitzenden Autos und dem brodelnden Verkehr fertig zu werden. Sie zeigte ihm auch wieder, nach all den Jahren der Isolierung, wie man in einer Familiengemeinschaft lebt.

Bei Frau Jürgens traf er die Frau, die ihm ihr Jawort gab, am er noch Mörder mit Bewährungsfrist war. "Sie ist jünger als ich und hat drei Kinder. Es ist eine große Verantwortung, die ich übernehme. Aber ich glaube, ich kann es jetzt", erzählt Meinberg. "Frau Jürgens kennt meine zukünftige Frau seit vielen Jahren. Sie meint, wir passen gut zueinander."

Dem freigesprochenen Lebenslänglichen liegt viel daran, Kinder großzuziehen. Als Meinberg im Dezember 1949 unter Mordverdacht verhaftet wurde, verließ ihn seine damalige Frau und zog zu einem anderen. Die beiden Söhne kamen in zwei getrennte Heime. Meinberg schrieb sich aus der Zelle die Finger wund, um zu erreichen, daß die Jungen wenigstens zusammen aufwuchsen. Vergeblich!

Heute hat er wieder Verbindung zu seinen Söhnen, zu deren Frauen und den Enkeln. Sie sind schon 32 und 35 Jahre alt. Beide haben keine Fachausbildung, weil sie schnell Geld verdienen mußten. Das bedrückt Meinberg.

Das Schwurgericht hat ihm bei seinem Freispruch 1. Klasse ausdrücklich volle Haftentschädigung zuerkannt.

Von dem Urteil des Jahres 1950 blieb nicht einmal mehr ein Verdacht! Der materielle Schaden, den er erlitt, kann ausgerechnet werden ? nicht der immaterielle. Den Betrag, über dessen Höhe noch nicht entschieden ist, will Meinberg verwenden, um für seine zukünftige Frau, die Kinder und sich eine Existenz aufzubauen.

Er hat sich unter den Arbeitskameraden in der Düsseldorfer Fabrik, in der er seit der bewußten Entlassung als Bohrer arbeitete, wohl gefühlt. "Niemand hat mit Fingern auf mich gezeigt. Sie waren alle kameradschaftlich zu mir", betont er. Aber dde Arbeit ist zu schwer für ihn. Er wiegt keine 120 Pfund bei einer Größe von 1,77 Meter. Zuerst in Einzelhaft

Die Gesellschaft hat viel gutzumachen an diesem Mann. Er erzählt wenig von dem, was er in drei Zuchthäusern in 19 Jahren erlebte. Aber alles, was er sagt, ist bedrückend bis zur Unerträglichkeit!

In den ersten Monaten hat man ihn in Einzelhaft gesteckt und Tüten kleben lassen. Als er sich weigerte, sein Urteil zu lesen, das er vom ersten Tag an als Fehlurteil bezeichnete, stufte man ihn als "Querulanten" ein. Er bekam nicht einmal mehr Schreibpapier.

Nach Jahren erst durfte er in der Gemeinschaftswerkstatt mit anderen zusammen arbeiten: Knöpfe auf Karten knipsen. Vton der Arbeitsbelohnung ? ganzen 50 Pfennig ? sparte er den Betrag für eine Fotografie. Er schrieb einen Brief an die Heimatzeitung mit der Bitte, das Foto zu veröffentlichen und nach Zeugen zu suchen, die ihn zur Tatzeit auf dem Marktplatz von Attendorn ? alsso l 1 /" Kilometer vom Tatort entfernt ? gesehen hatten. Aber der Generalstaatsanwalt beschlagnahmte Brief und Bild. Und so wurde der Alibi- Zeuge Rossmann nicht schon 1950 gefunden! So suchte Meinberg bis 1958 vergeblich einen Menschen, der ihn aus dem Netz der Hypothesen des ersten Urteils befreite!

Dann gab man ihm sinnvollere Arbeit : Er setzte Kugelschreiber und Füllfederhalter zusammen, wurde sogar eine Art Zwischenmeister für die Firma, die im Zuchthaus Gefangene beschäftigte. Zusammenstöße mit den Aufsichtsbeamten, die ihn zunächst nach dem Gutachten des Anwalts-Psychiaters mit "Arbeitstherapie" behandelt hatten, wurden seltener. Aber die Sorgen um die Kinder und die Verzweiflung über das Unrecht wuchsen immer mehr.

Meinberg hat in den neunzehn Jahren trotz allem nicht den Glauben an seine Mitmenschen verloren. Er glaubt an Frau Jürgens und seine Verlobte. Er vertraut ? in geradezu kindlicher Anhänglichkeit ? seinem Verteidiger Dr. Fritz Gross, der ihn in die Freiheit holte. Nachdem ihm in Siegen ein fairer Prozeß gemacht wurde und selbst der Staatsanwalt im Wiederaufnahmeverfahren die Anklage fallen ließ, scheint er sogar wieder Vertrauen in die Gerechtigkeit zu finden.

Als Dr. Gross von der Haftentschädigung spricht, sagt Meinberg zu mir: "Wenn ich das Geld bekomme, dann stifte ich ein paar tausend Mark für Vera Brühne und Johann Ferbach. Ich weiß, wie denen zumute ist. Ich bin davon überzeugt, die sitzen auch unschuldig!"