Sechs Tage und sechs Nächte war der deutsche Botschafter in Guatemala in der Hand von Terroristen. Dann traf ihn die Kugel der Entführer. Sechs Tage dauerte der Wettlauf um das Leben Graf Spretis. Sechs Tage lang stellte man sich die Frage: Wird alles getan, um Graf Spreti zu retten? In Bonn, Guatemala, Washington, im Vatikan und in El Paso, wo sich Bundeskanzler Brandt zeitweise aufhielt, wurde diese Frage gestellt. Was geschah? Was unterblieb? Aus dem bisher zugänglichen Material und eigenen Recherchen hat das Hamburger Abendblatt das Protokoll der Entführung, den Bericht einer Tragödie, zusammengestellt.

DIENSTAG, 51. MÄRZ

12 UHR 25: In Guatemala-City herrscht Mittagsruhe. Auf den Straßen ist wenig Verkehr. Die Prachtstraße. , Avenida de las Americas. sehr breit, von einem Gebüschstreifen dn der Mitte geteilt, von Gärten gesäumt, in denen große Villen stehen, ist nahezu menschenleer.

Aus Richtung Innenstadt kommt ein Mercedes. Im Fonds sitzt der 63jährige Karl Graf Spreti, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Guatemala. Das Fahrzeug führt die Nummer 56. Kein Diplomatenschild.

Viele Diplomaten verzichten in Guatemala diaimif, ihre W"igen durch ein CD besonders kenntlich zu machen, denn 1. will man möglichen Entführern oder Attentätern die Erkennung nicht leichter machen, 2. benutzen einige guatemaltekische Politiker das CD-Schild, um sich als Ausländer zu tarnen. So zum Beispiel der Außenminister Fuentes Mohr.

Auch der Volkswagen seiner Frau hat ein CD-Schild. Die Unsicherheit ist im übrigen so groß, daß mehrere Minister und auch schon einige Diplomaten nur noch in gepanzerten Fahrzeugen und mit bewaffneter Eskorte ausfahren.

Graf Spreti fährt allein. Sein Wagen ist nicht gepanzert. Eine Vorsichtsmaßnahme, die er sich allerdings angewöhnt hat. ist, stets eine Aktenmappe mit all seinen persönlichen Papieren bei sich zu tragen.

Der Botschafter hat den Guatemalteken vor zweieinhalb Stunden Geländefahrzeuge und Instrumente einer deutschen geologischen Mission übergeben, die drei Jahre im Lande arbeitete. Jetzt will er zu seiner Residenz an der Plaza Berlin.

Zwei Kilometer von der Residenz entfernt, zweihundert Meter vor dem Kolumbus-Denkmal, überholt ein beigefarbener Volvo den Botschafts-Mercedes, schneidet ihm den Weg ab und druckt ihn gegen den Bordstein. Em Toyota fährt von hinten fast auf. Der Fahrer des Botschafters, Edmunde Hernandez, will Gas geben, aber Spreti sagt: "Halten Sie! Das gilt mir, nicht Ihnen."

Auf derselben Straße, der Avenida de las Americas, war am 28. August 1968 der amerikanische Botschafter Gordon Mein erschossen worden, als er durch eine ungeschickte Bewegung den Eindruck erweckte, als wolle er sich

seiner Entführung widersetzen.

Sechs Männer mit Maschinen pistolen zwingen Graf Spreti, in den Toyota umzusteigen. Dann rasen beide Autos in Richtung Innenstadt davon. Der Fahrer Spretis braucht zehn Minuten, ehe er sich von seinem Schreck erholt. Dann ruft er beim Wirtschaftsreferenten der Botschaft, Hühner, an. Frau Hühner benachrichtigt Botschaftsrat Gerhard Mikesch. In Deutschland ist es 19.45 Uhr ebends.

21 UHR 27 (MEZ): AFP meldet Cliie Entführung. Der Redakteur vom Dienst im Bundespresseamt ruft das Auswärtige Amt an. Vier Minuten nach Eingang der Meldung ist Staatssekretär Duckwitz, verständigt, Minuten später Außenminister Scheel in seinem Urlaubsort Hinterthal in Österreich.

Die Botschaft in Guatemala wird angewiesen, sofort bei der guatemaltekischen Regierung vorstellig zu wenden. Die Grafen Spreti, Brüder des Botschafters, die auf dem Stammschloß Kapfing bei Landsbut in Bayern leben, bekommen die erste Nachricht um 22.45 Uihr duneh, den Anruf eines Bekannten, der im Radio von der Entführung gehört, hat. pie Frau des entiführten Botachafters ist per Schaff unterwegs nach Europa.

MITTWOCH, 1. APRH

14 UHR 40 (7.40 ORTSZEIT) findet Botschaftsrat Mikesch im Vorgarten seines Hauses eine Visitenkarte Spretis, adressiert an den Sohn Sandro. Der Botschafter teilt mit, daß er sich in den Händen der FAR (Revolutiionsartnee) befindet, daß es ihm 'gut gehe und man nicht vergessen solle, die, Löhne für das Hauspersonal auszuzahlen.

Über den Rundfunk wendet sich die deutsche Botschaft an die Entführer und bittet sie den herzkranken Spreti mit einem, bestimmten Medikament zu versorgen.

Wie sich später herausstellt, hatten die Entführer sich dieses Medikament schon vorher besorgt.

Die Entführer informieren die Tageszeitungen durch anonyme Anrufe, daß sie für die Freilassung Spretis 16 Gefangene binnen 72 Stunden fordern.

19 UHR 30: Die deutsche Botschaft meldet diese Forderung nach Bonn und auch, daß 1. der Apostolische Nuntius Monsignore Prigione seine Vermittlung angeboten, 2. Außenminister Fuentes Mohr versichert habe, alles zu tun, was in den Kräften der Regierung stehe.

In Bonn ist man nicht sonderlich besorgt. Der Grund: Vor einem Monat war der guatemaltekische Außenminister selbst Opfer einer Entführung. Er wurde gegen einen gefangenen Rebellenführer ausgetauscht. Noch am 5. März war ein entführter Angehöriger der US-Botschaft gegen dnei Gefangene ausgetauscht worden.

DONNIR8T AG, 2. APRIL

MORGENS Außenminister Mohr wiederholt seine Versicherung, man werde alles tun, weist aber auf verfassungsrechtliche Schwierigkeiten hin, da ein Teil der freizulassenden Gefangenen rechtskräftig verurteilt sei.

15 UHR 30: Staatssekretär Duckwitz ordnet an, daß Ministerialdirektor Hoppe, der sich in Montevideo (Chile) aufhält, sofort nach Guatemala fliegt. Er hat alle Vollmachten. Er kann direkt mit den Entführern in Kontakt treten und ein Lösegeld anbieten.

16 UHR: In Guatemala tritt das Kabinett zusammen.

17 UHR: Der Botschafter Guatemalas in Bonn, Gandara, ist zum zweitenmal an diesem Tage bei Duckwitz. Er berichtet von der Kabinettssitzung und sagt, man werde ein Gesetz erlassen, das die Freilassung der Gefangenen ermöglicht.

18 UHR: Das guatemaltekische Kabinett hat mit Mehrheit die Bedingungen der Entführer abgelehnt und den Belagerungszustand ausgerufen. Die Meinung im Kabinett war gespalten. Der Außenminister war für Annahme, der Verteidigungs- und der Innenminister (beides Offiziere) dagegen.

Belagerungszustand bedeutet u. a., daß die Regierung sich über die Justiz hinwegsetzen, also auch Gefangene freilassen kann. Das geschieht jedoch nicht.

FREITAG, 5. APRIL

5 UHR 40: Die deutsche Botschaft informiert das Auswärtige Amt über die Entscheidung der Regierung Guatemalas. Fünf Minuten später meldet sie nach Bonn, daß die Entführer ihre Forderungen erhöht haben: 24 Gefangene und 700 000 Dollar (2,56 Millionen DM) Lösegeld. Ultimatum bis 22 Uhr Ortszeit (5 Uhr MEZ).

9 UHR 50: Die Grafen Franz und Cajetan Spreti schicken über das Bonner Auswärtige Amt ein Fernschreiben an Botschafter' Gandara und fordern die Regierung Guatemalas (entsprechend dem Beispiel der japanischen Regierung in der Flugzeug-Entführungs-Affäre) auf, eine eigene Geisel für den deutschen Botschafter zu stellen. Das Auswärtige Amt leitet dieses Fernschreiben um 17.20 Uhr weiter. Gandara antwortet, "wenn die gegenwärtigen Umstände es erlauben", wolle er sich selbst zur Verfügung stellen.

9 UHR 58: Das Deutsche Rote Kreuz schaltet sich ein. Bonn bittet Washington um Unterstützung.

10 UHR: Die Grafen Spreti telegrafieren an den Papst und bitten um die Hilfe des Vatikans.

11 UHR 40: Sie telegrafieren an den Kardinal-Erzbischof in Guatemala.

12 UHR 30: Sie telegrafieren an den Malteser-Orden.

Per Eilbrief bietet ein Hamburger Hellseher seine Dienste auf Schloß Kapfing an.

In Guatemala verbreitet die Regierung das Gerücht, die Entführer verlangten die Auslieferung von vier "Verrätern", um sie hinzurichten.

In Bonn fühlt man sich getäuscht. Staatssekretär Ahlers weist auf die Diskrepanz zwischen den Zusicherungen und den Taten der Regierung von Guatemala hin. Staatssekretär Duckwitz richtet die "dringende Aufforderung" an Guatemala, alles zum Schutze Graf Spretis. zu tun. Lateinamerika-Kenner weisen darauf hin, daß sich Bonn an die falsche Adresse wende. Die tatsächliche Macht in Guatemala sei längst nicht mehr in den Händen der gegenwärtigen Regierung, sondern in denen einer Clique von Militärs und rechtsextremistischer Terrororganisationen,

SPÄTABENDS: Das Ultimatum wird bis zum 4. April, 15 Uhr (Ortszeit), verlängert. Der Apostolische Nuntius berichtet, en habe seit Dienstag Kontakt mit den Entführern und sehe gute Aussichten. An Ort und Stella wird bezweifelt, ob die Kontakte in etwas anderem bestehen können, als im Abwarten von Telefonanrufen.

SONNABEND, 4. APRIL

MORGENS: Die Botschaft in Guatemala berichtet nach Bonn, die Entführer hätten Botschaftsrat Mikesch mehrere Briefe Spretis zukommen lassen. Sie sind gerichtet an den Präsidenten, den Außenminister, den Apostolischen Nuntius und Spretis Sohn. Sie klingen beruhigend. Außerdem liegt ein Tonband von einem Gespräch Spretis mit einem der Entführer vor.

Bei einer Gefängnis-Meuterei in Guatemala wird einer der zum Austausch geforderten Gefangenen von der Polizei erschossen.

Botschafter Gandara gibt der Zeitung "La Nacion" ein Interview und sagt, Bonn werde die Beziehungen zu Guatemala abbrechen, wenn Spreti etwas geschehe.

Deutschlands technische Hilfe für Guatemala beträgt nur 10 Millionen DM, die privaten deutschen Investitionen 7.8 Millionen. Der Handelsaustausch ist füo Guatemala nicht lebenswichtig.

Die Botschaft in Guatemala meldet nach Bonn, daß sich die Militärs in der Regierung durch eine solche Drohung nicht einschüchtern lassen würden.

Auf Schloß Kapfing bietet sich ein Major a, D. namens Georg Gebhard aus Bad Reichenhall an, als Geisel nach Guatemala zu fahren.

20 UHR 34: Bei der Zwischenlandung in Washington richtet Bundeskanzler Brandt einen dringenden Appell an Volk und Regierung Guatemalas.

Um diese Zeit (in Guatemala ist es Nachmittag) erhält die Botschaft einen Hinweis, wie sie Kontakt mit den Entführern aufnehmen könne. Konsulatssekretär Hafner verläßt das Haus, komm" aber nach wenigen Minuten zurück. Das Botschaftsgebäude ist von Polizisten so abgeschirmt, die jeden seiner Schritte beschatten, daß eine unbeobachtete Entfernung nicht möglich wäre.

GEGEN 23 UHR: Von El Paso aus ermächtigt Brandt den Ministerialdirektor Hoppe, offiziell bekanntzugeben, daß die Bundesrepublik bereit ist, das Lösegeld zu zahlen.

SONNTAG, 5. APRIL

MORGENS: Bundesaußenminister Scheel bricht seinen Winterurlaub in Österreich ab und richtet von Bonn aus ein Telegramm an Außenminister Fuentes Mohr. Die UNO wird um Vermittlung gebeten.

Von El Paso schickt Bundeskanzler Brandt ein Telegramm an den Staatspräsidenten Mendez Montenegro. Das Telegramm erreicht ihn nicht. Der Präsident ist in Wochenendurlaub.

MONTAG, 6. APRIL

2 UHR (MEZ), 19 UHR IN GUATEMALA: Ein anonymer Anruf beim Nuntius. Gefragt wird: "Haben Sie ein Verhandlungsangebot?" Da der Nuntius nicht sofort darauf eingeht, antwortet der Anrufer: "Palabras, palabras!" (nichts als Worte!) und legt auf.

WENIGE MINUTEN SPÄTER:

Neuer Anruf beim Nuntius. Man möge nach San Pedro Ayaupuc fahren. Beim Kilometerstein 16,5 befinde sich eine Hütte . . .

Ein Kontaktmann berichtet später, das sei der Vorschlag zu einem Treffen gewesen. Die Entführer hätten sich aber verfolgt gefühlt, Angst bekommen und panisch reagiert.

Helene Gräfin Spreti, die Frau des Botschafters, trifft auf dem Luftwege von Lissabon kommend in Guatemala ein.

4 UHR: Außenminister Fuentes Mohr ruft die Botschaft an: Er stehe in Verhandlungen mit den Entführern. Er habe gute Hoffnung.

Wenige Augenblicke später meldet sich der Beerdigungsunternehmer Jose de Paz in der Botschaft. Er habe einen Toten gefunden, der einen Smaragdring habe. Botschaftsrat Mikesch fährt sofort nach San Pedro Ayaupuc.

4 UHR 46: Blitzmeldung von Reuters: "Leiche des Botschafters gefunden."