105 Kilometer Stadtautobahn sieht der neue Aufbauplan für Hamburg vor. Es Ist ein Plan, noch nicht sehr viel mehr. Auf einem Plan kann man nicht fahren: Daher die Frage: Sind die Verkehrsstrategen zu spät aufgewacht?

Im Mai 1940 legte die deutsche Luftwaffe die Altstadt von Rot' terdam in Trümmer. Nur noch der Turm der Grote Kerk ragte aus dem rauchenden Schutt.

Zwei Tage später durchschritten zwei breite Verkehrsachsen das Trümmerfeld. Eine Woche später hatte man genügend Spaten, Hacken, Overalls und feste Schuhe beschlagnahmt, um 36 000 Dienstverpflichtete den Schutt wegräumen zu lassen. Ein Sprengkommando legte jede, aber auch jede noch stehengebliebene Ruine nieder. Die Stadt enteignete alle Grundbesitzer der Innenstadt vorsorglich, um nach dem Kriege unbehindert durch Prozesse oder Bodenspekulation einen zeitgemäßen Wiederaufbau verwirklichen zu können.

Das geschah in Holland, einem Land, dessen Einwohner höchstens von den Schweizern oder Engländern an Individualismus übertroffen werden.

Die Frage liegt nahe, warum nicht alle kriegszerstörten Städte das gleiche taten wie Rotterdam? Das ist eine psychologische Frage. Die Holländer waren besiegt, aber sie waren nicht geschlagen.

Das alte Hamburg starb im Juli 1943. Für Deutschland war der Krieg damit nicht vorbei, wie er für Holland mit der Zerstörung Rotterdams vorbei war. Erst als der Krieg zu Ende war, zeigte sich das volle Ausmaß der Not: Hunger, Obdachlosigkeit, Flüchtlingselend ? und die Drohung der Sieger, aus Deutschland eine Viehweide zu machen. Deutschland war nicht nur geschlagen, zerstört, vernichtet, es war auch seelisch am Ende.

Der Blick nach drüben

Mit dieser Einleitung wollen wir diejenigen entlasten, die für den "Generalbebauungsplan" von 1947 mitverantwortlich sind. Dieser Plan Mefi zu, daS die ? nach Gesichtspunkten einer modernen Verkehrsplanung ? verbaut gewesene Stadt erneut ver baut wurde.

Immerhin begann man gleichzeitig, einen "Gerneralverkehrsplan" aufzustellen. Nach drei Jahren war er fertig und wurde 1950 in den Aulbauplan einbezogen.

Wieder bedarf et einer psychologischen Rechtfertigung bzw. Entschuldigung. Die Verkehrsplaner beginnen am Tiefpunkt der Hoffnungslosigkeit 1947. Aber während sie an ihren Plänen arbeiten, ändert sich das Bild. Es zeigt tich ? mit der Währungsreform 1948 ? , daß Deutschland weit schneller genesen wird, als das irgend jemand zu ahnen wagte.

Die Planer sind also hin und her gerissen zwischen der Tatsache: Wohnungen, Schulen, Arbeitsplätze haben den Vorrang (und selbst für sie gibt es kaum Geld) und der heraufdämmernden Einsicht, daß die Entwicklung bald ein Tempo annehmen könnte, das man einkalkulieren müßte.

So erklärt sich, rückwirkend betrachtet, vielleicht die sonderbare Diskrepanz zwischen Kurzsichtigkeit und Kühnheit in jenem Plan von 1950.

Einerseits glaubt man, mit dem Stra- ßennetz der Vorkriegszeit mit Hilfe einiger Verbreiterungen auskommen zu können. Daneben werden nur Trümmergelände an einigen der wichtigsten Durchgangsstraßen gesichert, die man später ausbauen will, und nur ein paar neue Umgehungsstraßen werden geplant.

Andererseits aber plant man schon drei neue Elbtunnel, obgleich an ihre Finanzierung noch nicht zu denken ist.

Aber wie sah es in den kommenden Jahren aus?

Der Blick über die Grenzen war nun nicht mehr versperrt. Im Gegenteil. Die Amerikaner holten Deutsche aller Fachrichtungen kostenlos in ihr Land, damit sie sich orientieren könnten, wie es in einem Land aussieht, in dem die Zukunft schon begonnen hat. Und auf keinem Gebiet hatte die Zukunft so sehr begonnen, wie auf dem des Verkehrs.

Waren unsere Amerikareisenden blind?

Sahen sie nicht, da6 der Verkehr und seine Bewältigung zur Lebensfrage Nummer 1 der groBen Städte wurde?

Spätestens 1953 hätte man den Aufbauplan von 1950 ins Museum für HamburgischeGeschichtelragen müssen, denn schon hatte die Motorisierung den Vorkriegsstand überholt, und man mußte mit einer Verdoppelung in absehbarer Zeit rechnen.

Diesen Blick in die Zukunft tut aber erst die "Verkehrsdenkschrift" des Senats von 1955. Sie gibt auch offen zu, daß die bisherigen Maßnahmen unzulänglich gewesen seien. Aber welche Folgerungen zieht sie daraus?

Das Patentrezept heißt: Verlagerung des öffentlichen Nahverkehrs (Straßenbahn) unter die Brde durch Bau von sieben neuen U-Bahn-Linien, um die Straßen zugunsten des Autoverkehrs zu entlasten.

Hamburg lehnte glatt ab

Sehr gut. Andere Großstädte, München und Frankfurt zum Beispiel, sehen sich heute ? später als Hamburg ? vor die gleiche Notwendigkeit gestellt.

Aber andere Großstädte, zum Beispiel Berlin und Hannover und Düsseldorf, erkannten schon früher die Notwendigkeit, den Autoverkehr durch kreuzungsfreie, wenn nötig mehrgeschossige Schnellstraßen innerhalb der Städte flüssig zu machen. In Hamburg wurde dieser Gedanke 1955 noch glatt abgelehnt.

Stadtautobahnen für Hamburg waren zwar schon vor dem Kriege geplant worden, aber 1955 hielt man sie für überflüssig. Man meinte, es genüge, den Fernverkehr von außerhalb durch die Verbindung der Bremer und Lübecker Autobahnen an Hamburg vorbeizureiten und den von und nach Hamburg gehenden Fernverkehr bewältigen zu können, indem man leistungsfähige Einund Ausfallstraßen möglichst weit an

das Straßennetz der Innenstadt heranführt.

Aber wie sah denn das innerstädtische Straßennetz aus? Und was würde geschehen, wenn 250 000 (wie heute), 300 000 (wie morgen) oder 400 000 (wie in ein paar Jahren) Autos in Hamburg selbst zugelassen sein würden?

Den Gedanken an eine "zweite Ebene" im lnnerstädti3chen Straßenverkehr wies man weit von sich. Nicht einmal für gefährliche Kreuzungen wollte man ihn gelten lassen. Noch 1958 hat der ehemalige Bürgermeister Brauer die Verfechter der "Stadtautobahnen", wie z. B. den Leiter des Tiefbauamtes, Professor Otto Sill, als "Plänemacher" abgewiesen.

Die "Plänemacher" kamen dennoch zum Zuge, als der spätere Bürgermeister Dr. Nevermann und Senator Buch sich auf ihre Seite stellten.

Der Aufbauplan von 19(0 sieht ein Netz von 105 Kilometer Stadtautobahnen und darüber hinaus Beseitigung aller ebenerdigen Kreuzungen vor, die heute wie Blutpfropfen die Schlagadern der Weltstadt verstopfen.

Aber wenden wir uns noch einmal der Vergangenheit zu. Es ist eine ganze Menge an den Straßen Hamburgs getan worden, von Jahr zu Jahr sind die verausgabten Summen gestiegen. Es fehlte nicht an Geld und gutem Willen: nur an Phantasie.

- Man baute die Neue Lombardsbrücke. Als sie fertig war, stellte man fest, daß man sie hätte breiter bauen müssen. Man verbreiterte die Straße "An der Alster".

- Als man fertig war, war sie schon zu schmal. Man baute die Sechslingspf orte zu einem großen Verkehrsknotenpunkt aus. Heute weiß man, daß sie ihren Zweck nur erfüllen kann, wenn man sie kreuzungsfrei macht.

- Und wenn die Kreuzungen am Stephansplatz, an der Einmündung des Neuen Jungf ernstiegs auf die Esplanade, das Ferdinandstor und einige andere nicht schleunigst überbrückt oder untertunnelt werden, erstickt Hamburg an diesem Verkehrsklumpen.

Doch wir haben ja den neuen Plan. Ist nun alles in Ordnung?

O nein. Hamburg bereitet sich auf die Internationale Gartenbau- Ausstellung 1963 vor. Die Vorbereitungen kosten 35 Millionen D-Mark. Über diesen Preis ist oft diskutiert worden. Wahrscheinlich ist er nicht zu hoch, denn im Zuge der Vorbereitungen wird Hamburg um einige bleibende Verschonerungen reicher werden, für die uns ein Opfer recht sein H9 m

sollte. Aber die 35 Millionen sind ja * nicht der einzige Preis. Höher scheint o uns der Zeitverlust im Straßenbau, den JJ die IGA mit sich bringt. n

Um den Gästen der IGA den An- £j blick aufgewühlter Erde zu ersparen, h um durch Baustellen in dieser Zeit des ? Fremdenandrangs in Hamburg nicht neue Jj Hindernisse zu schaffen, wird in der m Innenstadt keines der im Plan 1960 vor- jjjj gesehenen Großprojekte, nicht einmal " ein weiterer U-Bahn-Bauabschnitt, vor dem Ende der IGA In Angriff ge- ?* nommen. m Die Detailplanung fehlt! S

Aber selbst wenn uns die IGA nicht w "bedrohen" würde, sieht es in der Pra- % xis nicht so rosig aus, wie die Besucher |{ der Ausstellung "plan 60" in der Wex- m straße hätten vermuten können. *j

Es fehlt nicht an Geld. Seit die größte j| Notlage im Wohnungsbau beseitigt und p' man jetzt auch dem Ausbau des Ver- Jj kehrs den Vorrang einzuräumen bereit " ist, kann man auch mehr Gelder vom " ohnehin wachsenden Etat der Hanse- JJ

n

Stadt für diese Vorhaben abzweigen, m Seit auch der Bund den Ausbau von Jj Stadtautobahnen in allen Großstädten w fordert und neuerdings sogar bezahlen ffi will, darf man mit einer großzügigen g Unterstützung aus Bonn rechnen. Das ". Geld ist nicht mehr die Hürde. Auch 5 die Bauwirtschaft ist ? wenigstens im m Tiefbau ? nicht überfordert. Ihre Ka- J pazität ist nicht voll ausgenutzt. Sie ? könnte im größeren Maße als bisher " Aufträge übernehmen. Sie hätte sogar" die nötigen Arbeitskräfte. ? Aber die Detailplanung fehlt. Das £ Tiefbauamt kommt nicht nach. Der * Aufbauplan von 1960 steht in großen h Zügen, aber nicht im einzelnen. Das £ geben Bürgermeister Dr. Nevermann,* Bausenator Buch und Professor Sill" offen zu. ? Und so ist denn zu befürchten, daß 5 es weitergehen wird, wie es bisher* gegangen ist: hier ein Stückchen, da* ein Stückchen. Endlose Flickarbeit. Be- J seitigung eines Engpasses, während ? woanders zwei neue entstehen. Wenng man bei dieser Methode bleibt, wird" sich trotz aller Bemühungen nicht ver-* hindern lassen, daß der Straßenbau* noch jahrelang hinter der Verkehrs-" entwicklung herhinken wird und sich J der Vorsprung des Verkehrswachstums sogar noch vergrößert.