Zürich, 12. März

Das Gesetz der Serie besagte, daß in den Begegnungen der Turn-Nationalmannschaften der Schweiz und Deutschlands jene Mannschaft als Sieger aus einem Kampf hervorging, die auf heimischem Boden kämpfen konnte. Es wurde auch in Zürich vor 11 000 Zuschauern im ausverkauften Hallenstadion nicht durchbrochen, als die Schweizer mit einer großen kämpferischen Leistung mit 315,70 zu 344,80 Punkten Sieger bleiben.

Sieht man sich aber den Zahlenspiegel genau an, dann stellt man fest, daß die deutsche Mannschaft eine absolut gleichwertige, an einzelnen Geräten hier und da sogar überlegene Partie lieferte, aber letztlich daran icheiterte, daß sie am S e i t p f e r d um eine volle Klasse hinter den Schweizern zurückblieb. Nun erst, so stellten die Fachleute auf beiden Seiten in schöner Objektivität fest, rächen sich die Sünden der Väter. Da ein Jahrzehnt lang das Turnen am Seitpferd ln Deutschland nicht gepflegt wurde, ist es offenbar den 30- bis 36jährigen deutschen Turnern trotz aller Bemühungen nicht mehr möglich, den Anschluß in diesem Gerät an die Weltklasse, die die Schweizer verkörpern, zu linden.

Im Einzelspiegel stellte es sich heraus, daß Deutschland am ersten Gerät, dem Barren, mit 0,30 Punkten in Führung ging, da die geistige Diktion der Übungen größer war als bei den Schweizern und in Helmut Bantz, dem Deutschen Meister, der klar Beste des Feldes, auf deutscher Seite "tand. Er übertrumpfte den Gewinner der Goldmedaille an diesem Gerät, den Schweizer Hans Eugster, mit 9,90 Punkten noch um verdiente 0,10 Punkte.

Dann kam das "schwarze Gerät" der Deutschen. Am Seitpferd gingen 1,50 Punkte für die Deutschen verloren, und damit war praktisch schon der Gesamtkampf verloren, denn eine solche Distanz ist bei den sonst völlig gleich starken klassischen Turn- Nationen einfach nicht aufzuholen. Unsere leise Hoffnung, daß Deutschland im Pferdiprung durch die größere Höhe der Hechtsprünge wenigstens 0,60 bis 0,80 Punkte herausturnen würde, erfüllte sich nicht, da sich die Schweizer einmal bei dem von ihnen bevorzugten Überschlag verbessert vorstellten und Adalbert D i c k h u t, der sonst hervorragende Deutsche, mit 9,65 Punkten um ein gutes Stück hinter seinen möglichen Leistungen zurückblieb. Bantz wurde auch hier Bester mit 9,80 Punkten.

An den Ringen hat es bei der deutschen Mannschaft in den letzten Jahren dann und wann ein ähnliches Versagen wie am Seitpferd gegeben. Wir blieben diesmal davon verschont. Die deutsche Mannschaft turnte ausgezeichnet, beherrscht nunmehr dieses schwierige Gerät, bei dem ja kein starrer, sondern ein beweglicher Stützpunkt gegeben

ist, völlig und unterlag den hier wie immer hervorragenden Schweizern nur um 0,10 Pkt. Auch die Bodenübungen befriedigten. Beide Nationen, die in Rom bei den Turn- Weltmeisterschaften so schwach geturnt hatten, haben in mühevoller Arbeit viel dazugelernt. Überragender Teilnehmer Adalbert D 1 c k h u t (9,95 Punkte), bei dem der Gesamtaufbau, das Feuerwerk an schwierigsten Übungsteilen und Verbindungen und sein unwahrscheinlich schön herausgeflogener gestreckter Schraubensalto nicht mehr zu überbieten sind.

Am Reck gab es dann die nach den glänzenden Leistungen bisher nicht mehr erwartete Steigerung, wobei beide Mannschaften wieder last völlig gleich waren, denn die Schweizer triumphierten nur mit dem winzigen Vorsprung von 0,20 Punkten. Spannender als der Mannschaftskampf war hier der Einzelkampf, da die beiden alten Rivalen Exweltmeister und Olympiasieger Sepp Stalder und der beste Nichtrusse der letzten Weltmeisterschaft, der Deutsche Meister Helmut Bantz, nach fünf Übungen völlig gleichauf lagen. Als Bantz seine schwierige Reckübung mit einem sehr hoch hinausgeflogenen Hecht über das Reck abschloß und 9,85 Punkte erhielt, stand fest, daß Sepp Stalder schon in Weltmeisterform antreten mußte, um den Einzelsieg noch für die Schweiz zu erringen. Tatsächlich schaffte er das unmöglich Scheinende.

Stalder turnte noch schwungvoller und mit etwas mehr Verve als Bantz, und als er mit einem herrlichen Schraubensalto, den man schöner nie zuvor in der Welt der Geräte gesehen hatte, seine Übung beschloß, gehörte ihm der Einzelsieg mit 0,10 Punkten Vorsprung vor Bantz und 0,30 Punkten vor Adalbert Dickhut. Einzige Enttäuschung in der deutschen Mannschaft: Der Neuling Martin Mildt aus Lübeck war der Nervenbeanspruchung dieses Kampfes noch nicht gewachsen.

Wenn wir im Sommer des vergangenen Jahres ln Rom festgestellt hatten, daß das Individuum im Kunstturnen praktisch tot ist und der Roboter gesiegt hat, so stellten wir zu unserer Freude fest, daß die Kampfrichter in Zürich kleine Fehler bei den Übungen mit höchsten Schwierigkeitsgraden von Anbeginn an nur wenig ahndeten und deshalb den 16 Turnern beider Mannschaften den Mut zum höchsten Risiko zurückgaben, der jahrelang nicht mehr zu beobachten war. So siegten Schwung und Rhythmus über höchstmögliche Perfektion ? der Entwicklung im Kunstturnen wurden damit wieder alle Türen ge- öffnet.