Allen Gewalten hat der Michel getrotzt. Immer wieder hat er nach den wechselvollen Schicksalsstürmen der Jahrhunderte

sein Haupt neu erhoben.

Der Schiffsprediger Seile hatte seine Fastenpredigt gehalten. Die ehrbaren Hamburger Bürger gingen bedächtig heim in ihre schmalbrüstigen Giebelhäuser, die sich im bunten Gewirr der aufblühenden Neustadt um den Michel scharten. Es war der 10. März 1750.

Um 10 Uhr klang vom Turm die Melodie des Chorals über die Stadt Ehrfürchtig, fromm. Von der Elbe wehte eine frische Brise.

* 11 Uhr. Der Westwind trieb unheilvolles Gewölk zusammen. Ein greller Blitz, ein Donnerschlag wie die Pauke des Jüngsten Gerichts. Dann unheimliche Stille. Plötzlich fegten Hagel, Schnee und Regen über die Dächer der Stadt.

Drei Stunden später gellte die Sturmglocke vom Michel Alarm. Rauchschwaden quollen aus dem Holzwerk der Turmspitze. Ein Märzblitz aus heiterem Himmel hatte den Strahl der Vernichtung getragen. Drei Stunden hatte das Feuer geschwelt. Nun rasten die Flammen. Ein Regen glühender Asche wehte über Hamburg. Am Abend war es vorbei. Eine rußgeschwärzte Ruine war alles, was vom stolzen Michel blieb.

Ein unbekannter junger Mann

Aber der Michel war nicht tot. Er lebte in allen Hamburger Herzen. Acht Tage nur waren seit der Katastrophe vergangen. Da hatten die Hamburger schon 116 627 Mark Courant und 13 Schilling für den Wiederaufbau gesammelt. Ein Jahr später, da fügten sie eine zinnerne Platte in den Grundstein für den neuen Michel mit der inbrünstigen Bitte, daß er mindestens tausend Jahre stehen möge.

Ein unbekannter junger Mann gab in Hamburg Privatunterricht in lateinischer Sprache. Konstruierte in seiner mechanischen Werkstatt Erd- und Himmelskugeln und betätigte sich als Baumeister. Eine Brauerei in Altona hatte der 37jährige gerade abgeliefert. Er hieß Ernst Georg Sonnin. Ihm wurde der Wiederaufbau des Michels übertragen. Das Werk seines Lebens.

Es läuteten die Glocken von St. Petri und St. Nikolai. Trompeten schallten von den. Türmen Hamburgs. 19. Oktober 1762! Hamburg hat seine große Michaeliskirche wieder. Die Kirche stand. Aber was ist mit dem Turm? Er ragte nur bis zur Höhe des Kirchendachs. Die Jahre vergingen. Die Fremden, die nach Hamburg kamen, spotteten. Können die Hamburger keine Türme mehr bauen? In feierlichem Akt appellierte das Kirchenkollegium an den Senat. Da endlich bekam Sonnin den Auftrag. Und nun wuchs dieser schlanke Mast des großen Schiffes Hamburg, wie ihn ein genialer Mensch in seiner schöpferischsten Stunde erdachte. Sonnin kämpfte gegen Kleinheit und Intrigen. Und siegte.

Acht Jahre überlebte Sonnin sein Werk. Dann bettet man ihn im Gewölbe "seiner" Kirche zur Ruhe. Nicht einmal sein Name soll den Stein zeichnen, unter dem er ruht. Das ist sein Wille. Die Medaille zur Feier der hundertjährigen Kirchweih ist später in den" Stein eingelassen worden. Mit dem Bilde der Kirche und dem Bilde Sonnins. Jetzt will man sein Grab ? zur Linken unter dem Hauptaltar ? in eine Weihestätte für die Hamburger ausstatten. Dort unten in der Gruft ist ihnen in ihren steinernen Kammern über alle Stürme hinweg die Ruhe des Todes nicht gestört worden. Den Senatoren und Bürgermeistern. Dieser stummen Gemeinde von 2000 Hamburgern. Unter ihnen Karl Philipp Emanuel Bach, des großen Hamburger Musikgenius ältester Sohn.

Der Uhrzeiger am Michel drehte sich. Tage, Wochen, Jahrzehnte. Der Michel blickte hinab auf das Hamburg, das eine Weltstadt wurde. Es wuchsen die Helligen. Es dehnte sich und streckte sich, Den 3. Juli 1906 zeigten die Kalenderblätter.

2.15 Uhr. Ein leichtes Rauchwölkchen schwebte harmlos aus dem Zeigerloch der Turmuhr.

2.22 Uhr. Der Türmer Beurle stürzt schreckensbleich an sein Morsegerät In der Hauptfeuerwache las Branddirektor Westphalen den SOS-Ruf. "Hier im Turm Großfeuer." Schon drang dicker schwarzer Rauch aus dem unteren Holzbau. Schon schlugen die hellen Flammen durch die Säulen. Als sich Türmer Beurle über die Treppe retten wollte, brach er im Qualm zusammen. Der Turm wurde sein Grab. Um 3.07 Uhr ging ein Aufschrei durch die Menge, die Kopf an Kopf die umliegenden Straßen füllte. Frauen fielen auf die Knie und beteten. In einem gigantischen Feuerwerk, in Dampf, Rauch, Flammen sackte der Turm in sich zusammen. Die Glocken der anderen Kirchen läuteten das Sterbegeläut.

Zwei Dachdecker hatten an der südlichen Außenseite des Turmes mit einer Benzin-Lötlampe am Kupferbelag gearbeitet. Sie hatten Teerplatten als Abdeckung zwischen das Kupfer und die Holzverschalung gelegt. Die Hitze der Lötlampe hatte die Teergase sich entzünden lassen . . .

Spenden aus aller Welt

Im Hamburger Hof beobachtete der König von Sachsen vom Dach das furchtbare Schauspiel. Er war zum Stapellauf des Dampfers ,<König Friedrich August" nach Hamburg gekommen. Kaiser Wilhelm telegraphierte von einer Nordlandfahrt an Bürgermeister Burchard: "Möge dieses ehrwürdige Wahrzeichen der Stadt bald in früherer Schönheit nach dem alten Vorbild wiedererstehen." Am Abend der Katastrophe traf ein Kabel

aus New York ein. Die erste lÖOO-Mark- Spende eines Deutsch- Amerikaners. Eine Welle des Mitgefühls ging durch das Volk.

Die Bürgerschaft beschloß den Wiederaufbau. Hamburg stand in der Blüte seines Aufstiegs. Einstimmig wurden 3 113 000 Mark hamburgische Staatsgelder bewilligt 416 000 Mark brachte der Spendenstrom. Und der Michel erhob sich von neuem.

Sechs Jahre dauert es. Da ist am 19. Oktober 1912 der Ehrentag gekommen. Fahnen, Glocken, beglückte Menschen. Die Sonne bricht durch die Wolken, als Bürgermeister Burchard den deutschen Kaiser durch das Spalier der Hochrufenden zur Kirche begleitet. Der Säbel von S.M. schleppt über den roten Teppich vom Hauptportal bis zum Altar.

Die Glocken läuteten zur Hochzeit. Sie läuten zur Trauer. Das Feldgrau von 1914/18 mischte sich zwischen die Betenden. Nachkriegszeit: Als die "Karpfanger" und die "Niobe" mit jungen Hamburger Menschen an Bord auf See blieben, brauste die Orgel klagend durch das Kirchenschiff. Da umschließt diese heitere Barockkirche wie die Sturmkirche einer Hallig die Menschen.

Und dann jenes Inferno der Feuernacht vom 24. zum 25. Juli 1943. Draußen brannte im Höllensturm der Phosphorbomben die Neustadt nieder. Die Kirche umfing 5000 Menschen in ihrer Angst, ihrem Sterben, Gebären, ihrem Schmerz wie eine Mutter. In dieser Nacht ist der Michel ein Stück von unser aller Herzen geworden.

Verweht sind die Spukbilder der Vergangenheit. Der Michel steht. Der Nordwest heult um seinen Turm. Die alten Glocken, die schon auf dem Friedhof der Glocken dem Tode nahe waren, erheben ihre Stimme zum Himmel. Über die unruhige, lärmende Weltstadt klingt der Choral des Türmers. Und die Menschen unten bleiben stehen. In ihren Augen spiegelt sich der Michel. Ihr Michel. Ein Stück unvergängliche Heimat.