Eine Glosse von Mark Hübner-Weinhold

Hamburg. Zwei Tage vor dem Sommerurlaub. Der übliche Irrsinn. Gefühlte 83 Aufgaben, die nach irgendwie angeschoben, erledigt oder delegiert werden müssen. Auf einmal ist alles dringend. Und es spricht sich auf geheimnisvolle Weise in der Firma herum, dass man beabsichtigt, ganze drei Wochen nicht ins Büro zu kommen. Kennen Sie das auch?

Auf einmal haben eigenartig viele Kollegen das dringende Verlangen, noch mit Ihnen zu sprechen. Sie sind gefragt wie George Clooney bei der Berlinale. Wunderbar, so viel kollegiale Aufmerksamkeit.

Doch handelt es sich leider nicht um eine Fülle von Liebesbezeugungen. Vielmehr lieben es manche Kollegen, Ihnen arglos ein paar Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Damit ihre eigenen Baustellen nicht drei Wochen ruhen müssen. Geschickt verstehen solche netten Zeitgenossen es, Ihnen noch ein schlechtes Gewissen zu bereiten. Das müsste unbedingt noch erledigt werden. Ja, man wisse natürlich, dass Sie jetzt so kurz vor dem Urlaub ja eigentlich viele andere Dinge regeln müssten. Aber nur Sie allein könnten dieses Thema richtig beurteilen.

Also treten Sie in den letzten Tagen vor dem Urlaub wie ein Tour-de-France-Athlet auf einem Berg der höchsten Kategorie. Bloß nichts vergessen. Und den Kollegen keine Leichen im Keller hinterlassen. Deshalb sitzen Sie auch spätabends noch am Schreibtisch wie ein Frosch in einem Topf mit Wasser, das langsam bis zum Siedepunkt erhitzt wird. Der Frosch merkt das nicht und bleibt im Topf, bis er gekocht wird.

Und Sie? Verhalten Sie sich wie der Frosch? Oder springen Sie rechtzeitig ab? Klar, wenn Sie vorher versäumt haben, die Dinge rechtzeitig anzuschieben, dann rächt sich dieses Verhalten jetzt bitter. Und das Schöne ist ja: Nach solchen letzten Tagen und Stunden am Arbeitsplatz fühlen Sie sich wirklich urlaubsreif.

Das ist der psychologische Trick. Das ganze System ist darauf ausgerichtet, Ihnen ein Gefühl totaler Erschöpfung zu bereiten, damit Sie Ihren Urlaub so richtig genießen können.

Doch warum kommen dann im Urlaub Anrufe und E-Mails mit dringenden Anfragen bei Ihnen an? Doch wohl kaum, weil Sie Sehnsucht nach Ihrem Job haben.

In dieser Situation erleben Sie am eigenen Leib, was Sie im Biologieunterricht nie so wirklich verstanden haben: das Prinzip der Osmose. So wird in den Naturwissenschaften der gerichtete Fluss von Molekülen durch eine semipermeable, also halb durchlässige Membran bezeichnet. Die Arbeit diffundiert in Ihren Urlaub. Andersherum funktioniert es nicht.

Da hilft nur eins: radikal abschalten. Keine E-Mail, kein Handy. Gönnen Sie sich ein bisschen vom Glück der Unerreichbarkeit. Die Arbeit holt Sie eh früh genug wieder ein.