Berlin. Atomkraftwerke sind im Krieg eine Gefahr – nicht nur wegen möglicher Bombenangriffe. Auch die Wasserversorgung kann zum Problem werden.

Die internationale Atombehörde (IAEA) warnt angesichts des Ukraine-Kriegs und Stromausfällen immer wieder vor hohen Risiken durch das Atomkraftwerk Saporischschja. Doch mögliche Bombenangriffe sind nur ein Szenario, das verheerende Folgen haben könnte.

Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms ist ein Beispiel dafür: Das Atomkraftwerk Saporischschja greift für die Kühlung seiner Reaktoren auf Wasser aus dem Dnipro zurück – und dieser Wasserzufluss droht nun zu versiegen. Wie groß die Gefahr tatsächlich ist und was im Ernstfall passieren würde, erklären der Leiter des radiologischen Notfallschutzes im Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), Florian Gering, und Nicole Meßmer, Referentin für Krisenkommunikation, unserer Redaktion.

Ist die Sicherheit im Atomkraftwerk durch den Dammbruch gefährdet?

Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms bei Nowa Kachowka im Süden der Ukraine droht keine unmittelbare Gefahr für das Kernkraftwerk Saporischschja. Von Überschwemmungen ist das Kernkraftwerk nicht betroffen, da es flussaufwärts am Dnipro liegt.

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Was passiert, wenn das Kühlwasser im AKW knapp werden sollte?

Das Kernkraftwerk bezieht Wasser für seine Kühlung aus einem Wasserbecken, das mit dem Dnipro über einen Kanal verbunden ist. Welche Auswirkungen ein Bruch des Staudamms auf das Kernkraftwerk Saporischschja hätte, wurde bereits 2011 in einem EU-Stresstest untersucht, an dem sich die Ukraine freiwillig beteiligt hat. Als Ursache war damals ein Erdbeben angenommen worden. Der Stresstest ergab, dass auch nach einem Bruch des Staudamms nicht mit einem abrupten Absinken des Pegels im Kühlteich zu rechnen sei.

Das Atomkraftwerk Saporischschja liegt direkt am Fluss Dnipro, mit dessen Wasser die Kühlung der Reaktoren erfolgt.
Das Atomkraftwerk Saporischschja liegt direkt am Fluss Dnipro, mit dessen Wasser die Kühlung der Reaktoren erfolgt. © google maps | google maps

Gibt es andere Möglichkeiten der Wasserversorgung des AKW?

Das Kühlbecken ist über einen Damm geschützt. Nach Angaben des ukrainischen Betreibers Energoatom war der Wasserstand im Kühlbecken am Dienstagmorgen, 6. Juni, nicht betroffen. Ein Abfall des Wasserstands kann aber nicht ausgeschlossen werden. Der Stausee selbst ist noch 16,6 Meter tief.

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Nach Informationen der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) verfügt das KKW Saporischschja neben dem Wasserbecken über zusätzliche Möglichkeiten zur Kühlung. Seit dem 11. September 2022 sind die Reaktoren des Kraftwerks heruntergefahren; der Kühlbedarf ist daher nicht mehr so hoch wie in einem in Betrieb befindlichen Kraftwerk. Die Stromversorgung des Kraftwerks ist derzeit gewährleistet.

Wo liegen denn die größten Gefahren, die vom AKW Saporischschja ausgehen?

Wir als BfS sehen mehrere direkte und indirekte Faktoren, die die Gefahr eines Störfalls oder Notfalls erhöhen. Dazu zählen der Krieg in der Region, die angespannte Personalsituation im Kraftwerk, dessen lückenhafte Kontrolle und Versorgung mit Ersatzteilen sowie die Stromversorgung. Das Positive ist, dass das AKW schon seit mehreren Monaten abgeschaltet ist und dadurch die Radioaktivität in den Blöcken – insbesondere von radioaktivem Jod – deutlich gesunken ist.

Atomkraftwerke werden durch mögliche Bombardierungen oder Stromausfälle  im Krieg zur großen Sicherheitsgefahr.
Atomkraftwerke werden durch mögliche Bombardierungen oder Stromausfälle im Krieg zur großen Sicherheitsgefahr. © dpa | -

Kann ein Atomkraftwerk Bombenangriffe aushalten?

Kernkraftwerke sind nicht für militärische Angriffe ausgelegt. Die ukrainischen Kernkraftwerke sind zwar gegen Flugzeugabstürze gesichert, aber nicht gegen gezielte Luftangriffe durch Waffen oder Bombardierungen. Ihre Schutzhüllen könnten vielleicht solche Angriffe aushalten, aber sie müssen es nicht. Bisher herrschte bei Wissenschaftlern und Betreibern der Konsens, kerntechnische Anlagen aus militärischen Konflikten herauszuhalten. Seit dem Ukraine-Krieg gilt das nicht mehr.

Wie wäre die Ukraine durch einen AKW-Notfall betroffen?

Wenn es in einem der vier AKW zu einem unbeherrschbaren Notfall wie in Fukushima kommen würde, erwarten Atomexperten in einem Nahbereich bis 20 Kilometer die größten Strahlenbelastungen. Hier besteht die größte Gefahr, an Krebs zu erkranken. Die Betroffenen müssen mit einer Evakuierung rechnen.

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In 100 bis 200 Kilometern Entfernung ist die Bevölkerung auch noch erheblichen Strahlungen ausgesetzt. Hier sollten sich die Menschen zum eigenen Schutz in Häusern oder Keller aufhalten – insbesondere Kinder, Jugendliche und Schwangere sollten Jodtabletten erhalten. Da das AKW Saporischschja bereits seit Längerem abgeschaltet ist, wäre dort bei einer Havarie mit einer vernachlässigbaren Jodbelastung zu rechnen.

Welche Bedeutung hat die Atomkraft in der Ukraine?

Die Ukraine erzeugt mehr als 50 Prozent ihres Stroms aus Atomkraft. Mit dem schwersten Unfall in der Geschichte der Atomkraft in Tschernobyl geriet das Land 1986 – damals noch als Teil der Sowjetunion – in die Schlagzeilen. Aktuell sind drei Atomkraftwerke am Netz: Chmelnyzkyj, Riwne und Süd-Ukraine. Alle laufen störungsfrei und haben einen hohen Sicherheitsstand, der mit westlichen vergleichbar ist. Das AKW Saporischschja, Europas größtes Atomkraftwerk mit 6 Blöcken, wurde aufgrund des Kriegsgeschehens vor mehreren Monaten vom Netz genommen. Alle Reaktoren sind russische Druckwasserreaktoren.

Gehen von Tschernobyl noch Gefahren aus?

Um den Reaktor Tschernobyl besteht eine Sperrzone von 30 Kilometern. Dort besteht immer noch erhebliche Radioaktivität, ebenso in dem Sarkophag und in einem Lager für abgebrannte Brennelemente. Aber die Bedrohung ist deutlich geringer als bei einem AKW, das in kriegerische Handlungen verwickelt wird.

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