Die Energiekonzerne brauchen neue Konzepte. Die Folgen für die Strompreisentwicklung sind ungewiss. Eine Analyse von Olaf Preuß.

Hamburg. Der Beschluss der Bundesregierung zu einem abrupten - wenn auch begrenzten - Atomausstieg war in den vergangenen Tagen schnell gefasst. Nun beginnt der Streit darüber, was die jüngste Weichenstellung am deutschen Strommarkt kosten und wer die Rechnung zahlen wird. Völlig offen bleibt vorerst, wie sich die energiepolitische Kehrtwende der Regierung in den kommenden Jahren auf den Energiemix in Deutschland auswirken wird.

Klar ist, dass den Stromkonzernen kurzfristig Gewinne verloren gehen. Die sieben ältesten deutschen Atomreaktoren sollen nach dem Moratorium der Regierung zunächst für drei Monate vom Netz gehen. Betroffen sind davon die Unternehmen E.on, RWE und Energie Baden-Württemberg (EnBW). "Wir rechnen durch das dreimonatige Moratorium bei RWE mit einem wegfallenden Vorsteuerergebnis von 80 Millionen Euro und bei E.on von 150 Millionen Euro", sagte der Analyst Matthias Heck von der Investmentbank Macquarie gestern.

Allerdings wäre das nur ein relativ geringer Teil der Gewinne, die beide Konzerne für dieses Jahr unter dem Strich anpeilen: E.on strebt einen Nettogewinn von bis zu 4 Milliarden Euro an, RWE von rund 2,6 Milliarden Euro. Die Aktien der Unternehmen, die schon in den vergangenen Jahren Kursverluste verzeichnet hatten, gaben gestern weiter nach.

Auf den Strompreis dürften sich die Abschaltungen der Reaktoren kurzfristig nicht auswirken, in einem längeren Zeitrahmen aber vermutlich schon. Die Preise an der Leipziger Strombörse waren nach dem Beschluss der Bundesregierung kurzfristig gestiegen. Bei den Stromkunden komme das aber nicht an, sagte der Energiemarktexperte Uwe Leprich von der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes (HTW). "Der Strom von heute wurde schon vor zwei bis drei Jahren an der Börse eingekauft."

Würde der Ausstieg aus der Atomkraft beschleunigt und müsste dafür teilweise teurerer Strom in Kohlekraftwerken erzeugt werden, hätte dies ebenfalls nur einen "marginalen" Effekt auf die Strompreise, sagte Leprich. Ulrich Matthes vom Öko-Institut in Freiburg erwartet für den Fall eines vorgezogenen Atomausstiegs Effekte "unter der Nachweisgrenze". In Deutschland gebe es nach wie vor "massivste Überkapazitäten" bei der Stromerzeugung.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hingegen stimmte die Stromkunden gestern auf tendenziell steigende Preise ein: Strengere Sicherheitsauflagen für Atomkraftwerke könnten die Konsequenz haben, "dass da auch der Strom teurer wird". Auch die Verknappung des Stromangebots durch die zunächst befristete Abschaltung von Reaktoren könnte "auf den Preis einen Einfluss haben".

Der Hamburger Kupferkonzern Aurubis, einer der größten Energieverbraucher in der Hansestadt, fürchtet keine kurzfristig steigende Stromrechnung. Aurubis habe in Deutschland einen kostenbasierten Strompreis für die Laufzeit von 30 Jahren abgeschlossen, heißt es in einer Erklärung des Unternehmens von gestern. Die Abschaltung von Atomreaktoren und die höheren Preise an der Leipziger Strombörse wirkten sich deshalb nicht aus. Im Jahr 2007 hatte Aurubis nach einem Streit mit dem Stromkonzern Vattenfall Europe einen Vertrag über 30 Jahre geschlossen, dessen Laufzeit 2010 begann. Der Strompreis orientiert sich dabei an den Kosten des - noch nicht fertig gebauten - neuen Kraftwerks Moorburg und den aktuellen Kohlepreisen.

Die Auswirkungen des Atomkraft-Moratoriums auf Vattenfall Europe, den für Hamburg wichtigsten Stromversorger, sind bislang offen. Das Unternehmen betreibt die beiden Atomkraftwerke Brunsbüttel und Krümmel, die nach Störfällen allerdings seit 2007 stillstehen. Mit E.on verhandele man seit Januar eine Übernahme der Betriebsführung in den Anlagen, sagte eine Sprecherin von Vattenfall Europe dem Abendblatt. Aktuell gab es jedoch keine Pläne und Anträge an die zuständigen Behörden, die Reaktoren demnächst wieder ans Netz gehen zu lassen. Brunsbüttel fällt unter das Moratorium zur Abschaltung, Krümmel nicht.

Der EnBW-Konzern in Karlsruhe wiederum hatte bereits am Dienstag entschieden, dass der Reaktor Neckarwestheim 1, eines der ältesten deutschen Atomkraftwerke, dauerhaft vom Netz genommen wird. Er ist einer von insgesamt vier Reaktoren, die EnBW betreibt. Im Rahmen des Moratoriums nimmt das Energieunternehmen vorübergehend auch die Anlage Philippsburg 1 aus dem Betrieb.

Die Umweltschutzorganisation Greenpeace kritisierte EnBW gestern mit einer neuen Studie. Das Unternehmen sei ohne eine Abkehr von der Atomkraft ein "Sanierungsfall", sagte Greenpeace-Energieexperte Andree Böhling in Stuttgart. Der Anteil der Atomkraft am Kraftwerkspark und damit am Gewinn liege bei EnBW deutlich höher als bei der Konkurrenz, der Anteil der erneuerbaren Energien sei hingegen besonders niedrig.

Das Land Baden-Württemberg hatte kürzlich vom französischen Energiekonzern EdF 45 Prozent der EnBW-Anteile übernommen. Damit spielt das Thema in den Landtagswahlkampf hinein. Vor dem Hintergrund der neuen Atomkraft-Debatte sei "ein Gewinneinbruch im Jahr 2013 um bis zu 50 Prozent durchaus realistisch", sagte Greenpeace-Experte Böhling. Eine rasche Neuausrichtung hin zu erneuerbaren Energien, Netz- und Umweltdienstleistungen sei zwingend.

EnBW nannte diese Darstellung gestern "absurd und völlig abwegig". Der Konzern verwies auf Pläne, in den kommenden Jahren rund 3 Milliarden Euro in den Ausbau erneuerbarer Energien zu investieren.