Die Bevölkerung schrumpft. Der Mangel an Fachkräften nimmt zu, und für schlecht Qualifizierte wird es enger auf dem deutschen Arbeitsmarkt.

Hamburg. Klaus Wiesehügel mag es gern handfest. Dieser Tage lud der Chef der Gewerkschaft IG Bau-Agrar-Umwelt alle Bundestagsabgeordneten zum Besuch auf die Baustelle ein. Anschauungsunterricht will er dort bieten für die große Rentendebatte nach der Sommerpause. Dann soll das Renteneintrittsalter endgültig von 65 auf 67 Jahre angehoben werden, wie es bereits in der letzten Legislaturperiode von der Großen Koalition beschlossen worden war. Bei Wiesehügel weckt das den Zorn. Denn mittlerweile streitet man in Politik und Wirtschaft bereits über die Einführung der Rente mit 70, und 67 ist in seinen Augen nur die Wegmarke für den nächsten Schritt: "Wer im Herbst über die Fortsetzung der Rente ab 67 debattiert", sagt Wiesehügel, "soll vorher aus erster Hand die Chance haben, zu erfahren, was es heißt, auf dem Bau schuften zu müssen. Die Rente mit 70 ist ebenso absurd wie lebensfremd."

Der lange und harte Streit um das Rentenalter in Deutschland ist der wichtigste, aber nicht der einzige Teil bei der Debatte um die künftige Gestalt des deutschen Arbeitsmarkts. Die Bevölkerung in Deutschland schrumpft. In den kommenden Jahrzehnten wird sie nach den Prognosen des Statistischen Bundesamts von derzeit rund 82 Millionen Menschen auf deutlich unter 80 Millionen zurückgehen. Parallel dazu sinkt auch die Zahl der Erwerbstätigen. Immer weniger Arbeitende müssen künftig die Renten- und Sozialsysteme für eine wachsende Zahl von Leistungsempfängern finanzieren. Zugleich befürchtet man in vielen Branchen einen wachsenden Mangel an gut qualifizierten Fachkräften.

Der Arbeitsmarkt bietet heute in vieler Hinsicht ein widersprüchliches Bild

Die Tendenzen am Arbeitsmarkt erscheinen vor dieser Kulisse zutiefst widersprüchlich. Regierung und Wirtschaftsverbände wollen Ältere länger arbeiten lassen, derweil finden immer weniger junge Menschen einen Arbeitsplatz - und wenn, dann immer seltener eine feste Stelle. Während Politiker wie Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) von der Chance auf eine neuerliche "Vollbeschäftigung" in Deutschland reden, bangen etliche ältere Arbeitnehmer um den Verlust ihres Arbeitsplatzes - in der berechtigten Angst, nie wieder eine feste Stelle zu finden. Während Deutschland die Ingenieure und Lehrer ausgehen, lehnen Unternehmen etliche Lehrstellenbewerber als unausbildbar ab. Und während noch immer rund drei Millionen Menschen arbeitslos gemeldet sind - hinzukommt die inoffizielle "verdeckte" Arbeitslosigkeit - malochen immer mehr Festangestellte bis zum Ausbrennen.

Gegenläufige Entwicklungen wie diese könnten sich verfestigen. "Wir haben einen zwiegespaltenen Arbeitsmarkt: Qualifizierte Menschen werden immer mehr gefragt sein, nicht qualifizierte immer weniger", sagt Professor Klaus Zimmermann, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, der auch das Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit in Bonn leitet. Konsens herrscht bei den meisten Arbeitsmarktexperten darüber, dass das deutsche Bildungssystem die wachsenden Ansprüche an Qualifikation nicht ausreichend abdeckt. Zimmermann sieht indes auch ein anderes Problem: "Der deutsche Arbeitsmarkt ist zu einem hohen Maß von Menschen mit Migrationshintergrund bestimmt, und deren Ausbildung wird nicht besser. Diese Menschen leben hier ohne ausreichende Bildungs- und Berufsperspektiven, mit hohem Armutsrisiko und mangelnder Integration."

Bislang gelingt es nicht, die Zahl gut qualifizierter Zuwanderer zu steigern

Gern sähe die deutsche Politik das Land als bevorzugtes Ziel hoch qualifizierter Zuwanderer. Doch schon Kanzler Gerhard Schröders (SPD) Greencard-Initiative für Topkräfte aus der IT-Branche schlug zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts fehl. Vorwitzig forderte der CDU-Politiker Jürgen Rüttgers seinerzeit "Kinder statt Inder" - am Ende blieb beides aus und wird dem deutschen Arbeitsmarkt in den kommenden Jahren schmerzlich fehlen.

Der Verband Deutscher Ingenieure (VDI) registriert für fest angestellte Ingenieure derzeit eine Arbeitslosenquote von 2,5 Prozent. "Nach aktuellen Maßstäben ist das Vollbeschäftigung", sagt Verbandssprecher Marco Dadomo. Für den VDI ist das allerdings kein Grund zur Freude: "Derzeit fehlen in Deutschland rund 37 000 Ingenieure. Wenn die heutige Tendenz anhält, werden es in zehn Jahren etwa 100 000 sein." Für Deutschland, das wichtigste Exportland von Hochtechnologie, ist das eine bedenkliche Entwicklung. Zumal Schwellenländer wie vor allem China inzwischen ganze Heere von Ingenieursstudenten durch ihre Universitäten schleusen. Auch das vereinte Europa als größerer Arbeitsmarkt hat die Lage in jüngerer Zeit nicht entspannt: "Die Freizügigkeit für Ingenieure am europäischen Arbeitsmarkt ist noch längst nicht befriedigend", sagt Dadomo. "Vor allem Freiberufler haben es schwer, von einem Land ins andere zu wechseln."

Angesichts der schrumpfenden Bevölkerung wird sich die Lage am Arbeitsmarkt wohl verschärfen. "Derzeit scheiden im Jahr etwa 100 000 Menschen mehr aus dem Arbeitsleben aus als neue hinzukommen", sagt der Wissenschaftler Johann Fuchs vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. "Um 2020 herum, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand gehen, wird der Aderlass größer werden. Dann spüren wir den demografischen Wandel richtig."

Die Arbeitswelt wird flexibler, die Arbeitsbelastungen nehmen zu

Bildung bereits vom Vorschulalter an, eine gute Ausbildung sowie Fortbildung das gesamte Berufsleben hindurch - das erscheint aus heutiger Sicht als einzig probates Mittel, um gegenzusteuern. So oder so aber wird die Arbeitswelt in den kommenden Jahren und Jahrzehnten eher härter werden als freundlicher. Das westdeutsche Arbeitnehmerparadies der 70er- und 80er-Jahre mit steigenden Löhnen und sinkenden Arbeitszeiten ist unweigerlich verloren: "Freie, befristete und hoch flexible Arbeitsverhältnisse", sagt DIW-Chef Zimmermann, "werden dramatisch zunehmen. Und es gibt einen klaren Trend hin zu deutlich mehr Arbeit." Für diejenigen, die welche haben.