Zehn neue EU-Mitglieder: Prima, sagen die einen; riskant, finden andere. Aber Europa war schon immer ein Experiment, und die “Neuen“ waren früher mittendrin. Wir müssen sie erst wieder kennen lernen!

Europa ist wie eine Wohngemeinschaft: Jeder greift in die Haushaltskasse, und keiner trägt den Müll runter. Matthias Beltz, Kabarettist

Gute Idee, sich Europa als Wohngemeinschaft vorzustellen. Sofort hat man, schön klischeehaft, die verschiedenen Nationalitäten vor Augen: François kocht. Pietro singt unter der Dusche, Jorge flirtet mit Märta, die immer Kieferndüfte im Bad hinterlässt. Annemieke kümmert sich um die Blumen. Günther legt als Einziger die Zeitung ordentlich zusammen und sammelt Korken fürs Recycling. Und so weiter.

Jetzt ziehen zehn Neue ein. Tony und Stavros sind oft mit ihrem Schlauchboot weg und verpassen ihren Abwaschdienst. Laszlo übt abends um zehn noch Geige. Danuta benutzt die Wäscheklammern von Märta, die sauer ist, weil Jorge jetzt auf die blonde Rikki abfährt. Und so weiter. Schon steht der schönste Krach ins Haus.

Da 25 Leute keine WG, sondern schon eher eine Jugendherberge sind, gibt es Herbergseltern: das EU-Parlament und die EU-Kommission pochen auf Ordnung und Disziplin. François' Rohmilchkäse fliegt raus. Tonys Schlauchboot entspricht nicht der DIN-Norm. Geigen nur von 14 bis 18 Uhr. Wer nicht abwäscht, zahlt 5 Euro in die Haushaltskasse. (Rikkis Frage an Günther: "Hast du mal fünf Euro?")

Noch halten sich Vorurteile und Erwartungen bei den alten und neuen EU-Mitgliedern in einer Art heiterer Besorgnis die Waage. Laut einer Umfrage (in "Focus") versprechen sich 66 Prozent der Deutschen von der EU-Erweiterung eine "kulturelle Bereicherung". Kein Wunder, Polen und die Donauländer gelten als Wiege großer Musiker und Komponisten von Chopin über Liszt bis Lehar. Auch ein altes Vorurteil des Westens: Bei der Arbeit sind die Osteuropäer eher Schlawiner, aber dafür musizieren sie zum Heulen schön . . . Wirtschaftlich kann die Erweiterung der Bundesrepublik neue Märkte eröffnen, hoffen 64 Prozent der Befragten in derselben Studie.

Gleichzeitig fürchten viele, dass nun noch mehr deutsche Firmen abwandern (81 Prozent) und dass wegen des Armutsgefälles die Kriminalitätsrate steigen wird (66 Prozent). Richtig ist, dass z. B. Mädchenhandel und illegale Prostitution zugenommen haben. Andererseits: Unsere Sozialstationen und Altenheime kämen ohne osteuropäische Pflegerinnen nicht mehr zurecht.

Ambivalent sind die Meinungen auch bei den neuen WG-Mitgliedern selbst. Sie wissen, dass die EU kein One-way-Ticket zum Wohlstand ist. Polnische Landwirte fürchten, dass die Strukturanpassungen ihrer Höfe an EU-Normen zu einem gnadenlosen Ausleseprozess führen werden. Der Anschluss osteuropäischer Kommunen und Betriebe an EU-Abwasser-, Entsorgungs-, Emissionsrichtlinien wird Jahre dauern, Milliarden verschlingen (mehr als 50 Mrd. allein in Polen, wird geschätzt) und die Verbraucherpreise in die Höhe treiben. Beim Grand Prix und bei der Fußball-EM sitzt die WG gemütlich zusammen vor dem Fernseher - wenn es jedoch um die Haushaltskasse und die Europäische Verfassung geht, sind Konflikte programmiert.

Ein Europa der Einigen muss allerdings auch erst geübt werden, gegeben hat es das noch nie. Auf den insgesamt 3,89 Millionen Quadratkilometern der nun 25 EU-Länder zwischen Karpaten und Atlantik haben sich Grenzen, Monarchien, Republiken, Protektorate, Bevölkerungsmischungen in Jahrhunderten permanent verändert. Viele Fakten und Namen sind längst vergessen.

Etwa, dass es der polnische König Jan Sobieski war, der Wien 1673 vor den Türken rettete. Oder dass der britische Außenminister Benjamin Disraeli Russland 1878 die Insel Zypern einfach abkaufte, um Queen Victorias Interessen im Mittelmeer zu wahren. Oder dass die im Film immer so heurigenselige "k.u.k.-Monarchie" neben Österreich auch Tschechien, Ungarn, die Slowakei, Südpolen, Slowenien, Kroatien, Teile von Rumänien, Südtirol und später Bosnien umklammert hielt - ein "unmögliches Gebilde", schreibt Dietrich Schwanitz in seiner "Geschichte Europas".

Den tiefsten Einschnitt brachte die 45 Jahre lange Teilung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Die wird jetzt überwunden.

In diesem Journal, liebe Leserinnen und Leser, stellen wir Ihnen die neuen WG-Mitglieder vor - mit neugierigen Blicken auf ihre Landschaften, Gewohnheiten, Besonderheiten. Auf Seite 7 erzählen zehn junge Leute aus der erweiterten EU-WG von ihren Ländern. Auf Seite 8 der Beilage "Reise & Touristik" lesen Sie außerdem: Was für Reisende einfacher wird. Viel Spaß beim Lesen!