Berlin. Der Politologe Peter R. Neumann schlug Angela Merkel für den Nobelpreis vor. Am Freitag erfährt er, ob sein „gutes Gefühl“ stimmt.

Einmal im Jahr, an einem Freitag im Oktober, schaut die Welt nach Oslo. Dann wird der Gewinner des Friedensnobelpreises bekannt gegeben. 329 Nominierungen gingen beim Auswahlkomitee ein, fast ein Drittel für Organisationen, zwei Drittel für Personen. Nicht zum ersten Mal ist darunter Angela Merkel.

Peter R. Neumann hätte es nach eigenen Worten „fast vergessen“. Vor einem Jahr schlug der Politologe am Londoner Kings College die Kanzlerin vor. Diesmal könnte es „tatsächlich passieren“, twitterte er.

Angela Merkel: Das Beste kommt zum Schluss

Seine Wette auf Merkel folgt einer einfachen Logik: Mit der politisch begehrtesten Auszeichnung wird meist das Lebenswerk eines Menschen gewürdigt. Genau da setzte Neumann mit seinem ersten Satz an, als er die Christdemokratin dem Komitee vorschlug: Mit dem Ende ihrer Kanzlerschaft in diesem Herbst.

Sie macht gerade ihre Abschiedstour, am Donnerstag war sie in Rom beim Papst. Politischen Heiligenstatus würde sie mit dem Nobelpreis erringen. Es wäre der krönende Abschluss einer langen Karriere und wie ein Ritterschlag, in einer Reihe mit den wenigen deutschen Preisträgern genannt zu werden, mit Gustav Stresemann etwa, Carl von Ossietzky oder Willy Brandt. Vor allem wäre es eine Überraschung.

Das Komitee ist für eine Überraschung gut

Auf der Top-5-Liste, die der Direktor des Osloer Friedensforschungsinstituts Prio alljährlich vorlegt, taucht ihr Name jedenfalls nicht auf. Auf Platz eins steht die Organisation „Reporter ohne Grenzen“, gefolgt von der belarussischen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja.

Auch der russische Oppositionelle Alexej Nawalny und die Klimaaktivistin Greta Thunberg werden hoch gehandelt, ebenso die Weltgesundheitsorganisation inklusive der multilateralen Impfinitiative Covax gegen Corona. Einerseits.

Andererseits war das Komitee schon immer für eine Überraschung gut. Neumanns Empfehlung liest sich überaus überzeugend. Er schrieb, dass Merkel eine „Inspiration für weibliche Führung“ sei; dass die Kanzlerin für eine wertebasierte Ordnung und für friedliche Konfliktlösungen und Menschlichkeit stehe.

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„Sie wusste, dass sie leiden würde“

Natürlich vergaß er in seinem Brief nach Oslo nicht die Flüchtlingskrise. 2015 sandte Merkel, so Neumann, „ein machtvolles Signal der Menschlichkeit“ aus, als sie über einer Million Flüchtlinge ins Land ließ statt die Grenzen zu schließen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel ist für den Friedensnoblepreis nominiert.
Bundeskanzlerin Angela Merkel ist für den Friedensnoblepreis nominiert. © dpa | Jan Woitas

Genau deswegen ist sie nach 2015 schon oft für den Preis vorgeschlagen worden, zum Beispiel vom Friedensnobelpreisträger José Ramos-Horta. Der frühere Präsident von Timor-Leste erklärte mal in einem Interview, „Kanzlerin Merkel hat außergewöhnliche moralische und politische Courage gezeigt.“ Merkel habe gewusst, was sie in Kauf nahm. „Sie wusste, dass sie dafür leiden würde – und sie hat gelitten.“

Die Ironie ihres Lebens ist, dass sie erst politisch unsterblich wurde, als sie sich untreu wurde. Bis 2015 war Merkel dafür bekannt, dass sie Entscheidungen kühl taxiert und stets nach dem Vorsatz „bedenke das Ende“ traf.

Die Flüchtlingskrise als Bewährungsprobe

In jener Nacht auf den 5. September 2015 tat sie das Gegenteil: Sie entschied binnen Stunden und folgte ihrem Herzen. „Wenn wir uns jetzt noch entschuldigen müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land“, setzte sie sich alsbald gegen Kritik zur Wehr.

Es war eine moralische Begründung, der Merkel eine Zeitlang wechselnde politische Rechtfertigungen folgen ließ. Bald wurden einige negative Folgen sichtbar: Überforderte Kommunen, Integrationsprobleme, verstörte Wähler, Anfeindungen im eigenen Lager, nicht zuletzt das Erstarken des Rechtsextremismus.

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Die Würdigung einer einsamem Entscheidung

Wie sehr Zweifel sie plagten und wie trostbedürftig Merkel in jenen Tagen war, zeigt eine im „Spiegel“ festgehaltene Episode vom Januar 2016, als sie an einem Sonntagabend ein Klavierkonzert am Berliner Gendarmenmarkt besuchte, eine Benefizveranstaltung für Flüchtlinge.

An jenem Abend lief sie einem alten Weggefährten aus den Wendezeiten über den Weg, den Pfarrer, früheren Chef des Demokratischen Aufbruchs und allerletzten Verteidigungsministers der schon unter gegangenen DDR, Reiner Eppelmann.

Vergeben wird der Preis am 10. Dezember in Oslo

Eppelmann machte ihr Mut mit einem Zitat des früheren tschechischen Präsidenten und Schriftstellers Vaclav Havel. „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass eine Sache gut ausgeht. Hoffnung ist die Gewissheit, dass eine Sache Sinn macht, egal wie sie ausgeht.“ In der Konzertpause sprang Merkel von ihrem Stuhl auf und fragte bei Eppelmann nach: „Wie war das noch genau mit der Hoffnung?“

Der Preis wäre für sie jetzt eine späte Genugtuung und der Beleg, dass das Beste sprichwörtlich zum Schluss kommt. Wer jeweils für die Auszeichnungen nominiert wird und in die engere Auswahl kommt, wird von den Auswahlkomitees selbst traditionell streng geheim gehalten. Der Friedensnobelpreis wird als einziger in Oslo (alle anderen in Stockholm) vergeben, an Nobels Todestag, dem 10. Dezember.

Nobelpreise 2021: Diese Gewinner sind schon bekannt

Bereits in der ersten Wochenhälfte waren in Stockholm die diesjährigen Preisträger in den verschiedenen Kategorien bekannt gegeben worden: