Ganz Amerika steht schockiert vor einem gewaltigen Rätsel. Warum tötete der Amokläufer von Newtown wahllos Kinder? Nach und nach kommen verstörende Informationen ans Licht.

Newtown. Wie findet man etwas heraus über einen Menschen, der sein Leben lang nichts von sich preisgeben wollte? Und der jetzt tot ist, sich selbst erschoss, nachdem er zuvor 20 Kinder, sechs Erwachsene und seine Mutter grausam aus dem Leben riss? Es ist ein mühsames Puzzle, das die Ermittler der Polizei in Connecticut in den Tagen nach dem Schulmassaker von Newtown zusammenlegen müssen.

Wer war dieser 20 Jahre alte Adam Lanza, der unauffällig zu Hause bei seiner Mutter lebte und dann mit enormer Brutalität und schier nicht enden wollender Munition auf eine Schulklasse voller Kinder schoss? Was war sein Motiv?

Ganz Amerika steht schockiert vor einem gewaltigen Rätsel. Die Polizei will zwar „gute Beweise“ in Lanzas Haus gefunden haben, gibt aber bislang keine Einzelheiten darüber preis.

Und so machen sich Reporter von Radiostationen, Fernsehsendern, Blogs, Magazinen und Tageszeitungen auf die Suche nach Verwandten, Bekannten, Bezugspersonen und fahnden nach jedem noch so kleinen Anknüpfungspunkt an das Leben eines zum Massenmörder mutierten jungen Mannes. Das Bild, das sie zeichnen, lässt viele Fragen offen.

Adam Lanza war vor allem scheu

Lanza soll vor allem eines gewesen sein: scheu. Anders als viele andere in seinem Alter hatte er weder ein Profil beim sozialen Netzwerk Facebook, noch twitterte oder bloggte er im Internet. Von Menschen hielt er sich anscheinend absichtlich fern.

„Als ich ihn das erste Mal getroffen habe, stand er zwei Meter entfernt. Dann machte er drei Schritte auf mich zu, schüttelte meine Hand und machte schnell wieder drei Schritte nach hinten“, erzählte Russell Hanoman, ein Freund von Lanzas Mutter, dem TV-Sender NBC. Frühere Klassenkameraden beschreiben ihn als Einzelgänger.

Der 20-Jährige, der auf den wenigen Fotos in US-Medien meist einen rot-braunen Topfschnitt trägt und so wirkt, als ob er sich unbehaglich fühlt, lebte noch bei seiner Mutter und ging offenbar auch nicht auf eine Schule oder eine Universität. Sein älterer Bruder Ryan war bereits ausgezogen, vom Vater hatte sich die Mutter 2009 getrennt.

Mutter und Sohn lebten von Unterhaltszahlungen des Vaters - übereinstimmenden Medienberichten zufolge fast 300.000 Dollar (etwa 230.000 Euro) im Jahr. Ob die Scheidung freundschaftlich verlief, darüber berichten US-Medien unterschiedlich. Adam Lanza soll den Kontakt zu seinem Vater jedenfalls abgebrochen haben.

Für seine Mutter soll er einen Großteil ihres Lebensinhalts bedeutet haben. „Alles, was sie in ihrem Leben gemacht hat, war darauf ausgerichtet, dass er versorgt ist“, sagte Hanoman.

Medien spekulieren über Autismus

Doch auch die Beziehung zur Mutter sei nicht einfach gewesen. Als er einmal krank gewesen sei, habe er sie nicht in sein Schlafzimmer lassen wollen, erzählte Ellen Adriani, eine Freundin der Mutter, dem Sender NBC. „Aber er wollte doch, dass Nancy für ihn da ist und so campierte sie die ganze Nacht vor seiner Schlafzimmertür. Hin und wieder fragte er, ob sie noch da sei. Er brauchte also die Sicherheit, dass sie da war, aber nicht in seinem eigenen Raum.“ Einige Medien spekulieren auch, Lanza könnte eine psychische Krankheit gehabt haben oder autistisch gewesen sein.

„Er war ein Computer-Streber und sehr klug“, sagte seine Tante Marsha Lanza dem TV-Sender CBS. Auch in anderen Berichten wird Lanza immer wieder als außergewöhnlich intelligent beschrieben. Welche Schulen er besuchte – und ob darunter auch der Tatort, die Sandy Hook Elementary School, war – blieb zunächst unklar. Zeitweise habe ihn die Mutter zu Hause unterrichtet, sagte die Tante.

Und ein Sprecher der Western Connectictut State University bestätigte der „Huffington Post“, dass Lanza dort schon mit 16 Jahren einige Kurse belegt habe, darunter Deutsch für Anfänger, Geschichte und Computer-Kurse. Zuletzt sei Lanza 2009 an der Universität gewesen.

Noch kurz vor der grausamen Bluttat habe der 20-Jährige sein Leben eigentlich zum Positiven verändern wollen, sagte der Freund der Mutter, Russell Hanoman. „Er wollte zurück an die Schule, also haben er und seine Mutter sich Universitäten angesehen und nach einer idealen Umgebung gesucht. Er wollte sozialer werden. Er wollte nicht den Rest seines Lebens wie gefangen in seinem Haus verbringen.“

Mutter des Todesschützen behielt ihre Probleme für sich

Im Blickpunkt der Ermittlungen steht insbesondere die Mutter. Was für ein Leben führte sie? In der Pizzeria „My Place“ war sie Stammgast. Alle am Tresen kannten Nancy Lanza. Immer wenn sie hörte, dass jemand knapp bei Kasse war, bot sie an, die Rechnung zu übernehmen. Über ihre eigenen familiären Probleme sprach sie nicht. Das, was sie für sich behielt, treibt jetzt die ganze Stadt um.

Zwei, drei Mal die Woche kam die 52-jährige gut situierte Blondine abends ins „My Place“, um Salat zum Mitnehmen zu holen, und blieb dann auf einen Wein und ein Schwätzchen. Die geschiedene Mutter zweier Söhne unterhielt sich gern über Baseball und ihre Lieblingsmannschaft Red Sox, über das Gärtnern und das Sportschießen, das sie mit wachsender Leidenschaft betrieb. Von ihren Söhnen, mit denen sie früher oft zum Frühstücken kam, sprach sie mit Stolz. Doch ihr Privatleben, vor allem seine Probleme und Rückschläge, war für den Bekanntenkreis tabu.

Familienleben war Privatsache

„Ihr Familienleben war ihr Familienleben, wenn wir zusammen waren. Sie behielt es für sich. Das war ihre Privatsache“, erzählte Louise Tambascio, die gemeinsam mit ihren Söhnen das Lokal führt und sich mit Nancy Lanza häufig zum Einkaufen und zum Essen traf. Auch Lanzas jüngsten Sohn Adam lernten die Freunde kennen; als sie ihn mitbrachte, schwieg er und starrte zu Boden. Sie wussten, dass er mehrmals die Schule gewechselt und dass sie versucht hatte, ihn zu Hause zu unterrichten. Zwar äußerte sie abends am Tresen manchmal Sorgen über seine Zukunft, aber sie beklagte sich nie.

„Ich hörte sie als Elternteil reden. Ich habe immer gesagt, in ihrer Haut möchte ich nicht stecken. Aber ich dachte, Mann, sie hält sich gut“, erzählte Tambascios Sohn John. Lanza lebte in gehobenen Verhältnissen. Als sie mit ihrem damaligen Mann Peter Lanza 1988 aus New Hampshire in den Ort in Connecticut zogen, kauften sie ein nagelneues Anwesen im Kolonialstil mit 290 Quadratmeter Fläche auf einen 8.000 Quadratmeter großen Grundstück. Sie hatte früher in Boston als Börsenmaklerin gearbeitet, er war ein erfolgreicher Manager. Bei der Scheidung 2009 überließ er ihr das Haus und versprach, sie werde nie mehr arbeiten gehen müssen, wie ihre Schwägerin Marsha Lanza berichtete. Bei der Trennung habe es kein böses Blut gegeben, und Adam habe Zeit sowohl mit der Mutter als auch mit dem Vater verbracht, sagte seine Tante.

„Waffen waren ihr Hobby“

Bekannte beschreiben Nancy Lanza als großzügig, erinnern sich an Einladungen zum Baseball und finanzielle Unterstützung. Manchmal schien sie völlig sorglos, traf sich mit Nachbarinnen zum Würfelspiel und begeisterte sich für Gartenarbeit. Sie erzählte Bekannten auch, dass sie sich Waffen gekauft und mit dem Schießen begonnen habe, wie John Tambascio berichtete. Die Waffen habe sie sich zum Schutz zugelegt, sagte Marsha Lanza der „Chicago Sun-Times“: „Sie bereitete sich auf das Schlimmste vor.“ Nancy habe einen Zusammenbruch der Wirtschaft befürchtet, und sie habe allein gelebt, erklärte die Schwägerin. „Waffen waren ihr Hobby“, sagte ein Bekannter, Dan Holmes, der „Washington Post“: „Sie erzählte mir, dass ihr die völlige Konzentration beim Schießen gefällt.“

Bei der Rückkehr vom Schießstand fand sie immer wieder die scheinbar unlösbaren Probleme ihres Sohnes vor. An der High School erlebte er öfter Krisen, die nur seine Mutter entschärfen konnte. „Er hatte einen Schub, und sie musste kommen und sich kümmern“, berichtete Richard Novia, der die Lanza-Jungen aus der Technik-AG der Schule kannte. Adam habe sich manchmal allem entzogen, was er habe tun sollen. „Er flüchtete. Das war, glaube ich, das große Problem. Und das war nichts Rebellisches und nichts Trotziges. Das war ein Zurückziehen.“

Marsha beschrieb Nancy Lanza als gute Mutter. „Wenn er eine Therapie gebraucht hätte, hätte sie dafür gesorgt“, meinte sie. „Nancy war niemand, der vor der Wirklichkeit die Augen verschließt.“