Newtown war bis zu dem Amoklauf am Freitag ein Ort, in dem Kinder behütet aufwuchsen. Ein Besuch in einer traumatisierten Stadt.

Es ist 9.37 Uhr, als Kathy Klesitz' Welt kollabiert. Es ist ein sonniger Morgen in Newtown im US-Bundesstaat Connecticut. Der Frühstückstisch ist abgeräumt. Ihre Tochter Raven ist schon in der Schule. Kathy packt ihre Sachen und macht sich auf den Weg zur Arbeit, als das Telefon klingelt. "In einer Schule hat es eine Schießerei gegeben", sagt eine automatische Ansage der Schulverwaltung in Newtown. "Mein Herz ist stehen geblieben", sagt Kathy.

Sie versucht, Ravens Schule anzurufen. Ihre Cousine versucht, die Polizei anzurufen. Niemand geht ans Telefon. In Newtown gibt es mehrere Schulen, Raven ist zwölf Jahre alt und besucht die Middle School. Niemand kann Kathy sagen, an welcher Schule der Amoklauf war. An der Middle School? Lebt Raven? "Mein Herz hat nicht mehr geschlagen in dieser Zeit", sagt Kathy. Ein paar Minuten später kommt der zweite Anruf: "Der Amoklauf ist an der Sandy-Hook-Grundschule", sagt die automatische Ansage. "Die Zeit zwischen den Anrufen war nicht lang, aber es kam mir vor wie eine Ewigkeit", sagt Kathy. "Es waren nur ein paar Minuten, aber es fühlte sich an wie Stunden."

Kathy legt den Arm um Raven. Es sind zwei Tage vergangen seit der Schießerei. "Ich bin so unfassbar erleichtert", sagt Kathy. "Aber wir sind auch sehr traurig." Mutter und Tochter sind zur Sandy-Hook-Grundschule gekommen. Sie stehen in der Kälte zwischen all den Trauernden, weißer Atemnebel vor dem Mund, Tränen in den Augen. Sie sind Teil einer Prozession. Seit Freitagmorgen pilgern die Menschen zu diesem Ort des Schreckens. Hier in der Sandy-Hook-Grundschule hat am Freitagmorgen um 9.30 Uhr, wenige Minuten vor dem automatischen Anruf bei Kathy, ein 20-Jähriger 20 Kinder erschossen, sie waren sechs und sieben Jahre alt. Auch sechs Erwachsene starben. Am Ende erschoss der Täter sich selbst. Es ist einer der schlimmsten Amokläufe der USA - dem Land mit so vielen Schießereien in Schulen und Universitäten.

26 Luftballons, einer für jedes Opfer in der Schule, haben die Trauernden herbeigetragen. Es stapeln sich Teddybären, ein Stoff-Rentier und Blumensträuße. Jemand hat weiße glitzernde Engelsflügel mitgebracht und Körbe voller Spielzeug, mit dem niemand mehr spielen wird. Hunderte Kerzen flackern vor dem Schild der Grundschule, das Besucher willkommen heißt. Immer neue Menschen kommen, legen Blumen nieder, halten sich an den Händen, Tränen fließen, Umarmungen, Seufzer. Trotz Hunderter Menschen, trotz Feuerwehrleuten und Polizisten, trotz Fernsehkameras, Fotografen und Reportern ist es ganz still. Newtown trauert. Und Newtown stellt Fragen.

"Wie kann jemand einfach den Abzug ziehen und unschuldige Kinder töten?", fragt Raven. Ein kleiner Bruder und eine kleine Schwester von ihren Freundinnen sind gestorben, auch eine Lehrerin aus der Schule, die sie gut kannte. "Ich bin unter Schock", sagt sie.

"Wie konnte das passieren?", fragt Alice Mulero. Sie ist Mutter und Schulbusfahrerin, sie bringt drei Kerzen mit Marienbildchen zur Sandy-Hook-Schule. Am Montag muss sie wieder zur Arbeit, andere kleine Kinder in eine andere Schule fahren. Sie kann sich noch nicht vorstellen, wie sie das schaffen soll, sagt sie: "Die Welt ist nicht sicher, nirgends ist man sicher. Das Böse ist überall. Aber hätte man das nicht ahnen können? Hätte man den Täter nicht genauer beobachten müssen? Brauchen Schulen bessere Sicherheitsvorkehrungen?"

Am Sonntagabend (Ortszeit) kommt Präsident Barack Obama zu Besuch in das 27.000-Einwohner-Örtchen, rund 100 Kilometer nordöstlich von New York. Er betet mit den Angehörigen und Klassenkameraden. Es ist schon sein vierter Besuch in einer amerikanischen Kleinstadt nach einer Schießerei in einer Schule. Antworten auf Newtowns Fragen hat Obama nicht.

Auf dem Altar der katholischen Kirche St. Rose of Lima brennen 26 Kerzen. Seit Freitag ist das rote Backsteingebäude rund um die Uhr für Trauernde geöffnet, es ist nur wenige Kilometer von der Schule entfernt. Das Glockenspiel erklingt über den Dächern des Örtchens, der Kirchenvorstand verteilt Kekse und Taschentücher. Zu den Gottesdiensten kommen so viele Menschen, dass manche nicht mehr ins Kirchenschiff passen, sie schauen von draußen durch die Fenster zu. Am Sonntagmorgen um 7.30 Uhr ist jeder Platz besetzt. Rot verweinte Augen. "Wir suchen Trost in dieser dunklen Zeit. Und was uns trösten soll: Liebe ist stärker als Hass", ruft Pastor Peter Cameron der schluchzenden und schneuzenden Gemeinde zu. "Wir haben jetzt Heilige unter uns." Acht Beerdigungen sind in den nächsten Tagen angesetzt.

Im Kirchenvorraum wartet ein riesiges Plakat auf Unterschriften und kleine Botschaften für die Opfer. "Wir werden euch nie vergessen, wir werden euch immer lieben", steht da mit schwarzem Stift. Und: "Jesus loves Gun Control." Jesus liebt schärfere Waffengesetze. In den USA ist eine Diskussion entbrannt, ob der Zugang zu Schusswaffen stärker beschränkt werden soll - wie nach jedem der vielen Amokläufe. Obama hat in seiner ersten Ansprache nach der Schießerei "sinnvolle Maßnahmen" in Aussicht gestellt. Waffennarren befürchten seither scharfe neue Gesetze. Waffengegner fürchten, dass scharfe neue Gesetze ausbleiben. Im Gottesdienst singen sie Weihnachtslieder. "Hark the herald angels sing: / Glory to the newborn King / Peace on earth and mercy mild / God and sinners reconciled". Sie singen von Frieden auf Erden, von milder Gnade, von Gott und Sündern ausgesöhnt - während vor ihrer Kirchentür eines der schlimmsten Verbrechen geschah. Sie singen von Weltfrieden - dabei ist der Frieden direkt vor ihrer Tür verschwunden, in Newtown, einem der friedvollsten Orte der Welt.

Newtown ist eine Stadt, in die man zieht, wenn man Geld hat und Familie und die Kinder wohlbehütet aufwachsen sollen. Newtown ist Neuengland aus dem Bilderbuch. Weiße Holzhäuser strahlen in der Sonne, sie scharen sich um ein kleines Rathaus mit Türmchen. Nachts leuchten ihre Lichterketten in den Sternenhimmel. Die Kirchen haben frisch gemähte Vorgärten, die Häuser lange Einfahrten. Ein Flüsschen schlängelt sich vorbei. Es riecht nach Laub und Tannennadeln. Es ist ein Idyll. Jetzt weht die metergroße Fahne im Stadtzentrum auf halbmast.

"Newtown ist ein großartiger Ort, um groß zu werden", sagt Jim Craig. "Hier kann man die Kinder alleine draußen spielen lassen, es ist ein sicherer Ort." Er legt seiner 13-jährigen Tochter Veronica die Hand auf die Schulter, sie sind vor die Grundschule gekommen, um Blumen zu bringen. "Wir wären bei einem Banküberfall sehr, sehr, sehr überrascht hier. Solche Dinge passieren hier eigentlich nicht. Und nun so etwas." Craigs Familie kennt eines der Opfer - so wie alle hier. Man kennt sich in Newtown. "Ich fühle mich wie in einem bösen Traum", sagt Veronica. "Das Böse ist in unsere Gemeinde gekommen", sagt Dan Malloy, der Gouverneur von Connecticut.

Auch der Täter ist privilegiert aufgewachsen. Adam Lanza ist nur wenige Kilometer von der Schule groß geworden, in der er zum Täter wurde. In der 36 Yogananda Street steht ein weißes Haus im Grünen, um die Siedlung herum ein kleiner Wald, die Häuser haben Pools und Hollywoodschaukeln und Briefkästen auf der Straße. In den Einfahrten parken große, saubere Autos. Hier hat der 20-Jährige seinen ersten Mord begangen, hier hat er am Freitag seine Mutter erschossen.

Lanza soll ein guter Schüler gewesen sein, aber einsam. Ein stiller, unauffälliger Junge. "Vielleicht hat man die Warnzeichen übersehen, weil er so still war", sagt Craig. Manche spekulieren, dass er unter dem Asperger-Syndrom gelitten hat, einer Form des Autismus, einer Persönlichkeitsstörung. Ob das stimmt, zählt zu den vielen Fragen, die die Ermittler in den nächsten Wochen klären wollen. Warum passieren Amokläufe immer in Kleinstädten, immer in weißen Mittel- oder Oberklassegesellschaften?, fragen Psychologen und Soziologen wie Jessie Klein von der New York University. Was ist da los in Small Town America?

Immer neue Polizeiautos fahren an den Straßensperren vorbei auf das Schulgelände. Die Feuerwehr, das FBI, die Staatspolizei, Psychologen und die Spurensicherung arbeiten daran, die spärlichen Informationen zu einem Puzzle zusammenzusetzen, das Sinn ergibt. Warum hat der Täter das getan?

"Wir suchen nach Erklärungen, aber das alles ist nicht erklärbar", sagt Peter Keeler. Er hat zu Hause auf dem Sofa gesessen und sich ganz leer gefühlt und ratlos, erzählt er. Also hat er sich freiwillig als Ordner gemeldet. "Es soll ja jetzt nicht noch jemand überfahren werden, weil er gerade kein Auge für Autos hat", sagt er. Mit grellgelber Feuerwehr-Warnweste versucht er für Ordnung zu sorgen an einem Ort, der jede Ordnung verloren hat. "Augen auf, ein Auto kommt", ruft er durch die Stille der Trauernden. "Aufpassen, Aufpassen!" Es wird dauern, bis hier Normalität einkehrt, sagt Keeler. "Vielleicht wird das nie passieren."